„Leben ist ein zerbrechliches Geschenk“
Der Vizepräses der rheinischen Kirche sagt, durch Corona befassten sich mehr Menschen mit der Sterblichkeit.
Herr Pistorius, es gibt Themen, die berühren einen so, dass man sie sich am liebsten vom Leibe halten will. Tod und Sterben gehören dazu. Ist der Totensonntag der Versuch der Kirche, die Lebenden mit dem Sterben zu versöhnen? CHRISTOPH PISTORIUS Wir wollen den Menschen mit dem Toten- oder Ewigkeitssonntag in jedem Fall ein Angebot machen, ihnen einen Deutungsrahmen geben, wie der Tod, der nun mal zu jedem Leben dazugehört, eingeordnet werden kann. Eine Perspektive über das Hier und Jetzt hinaus anzubieten, das ist unser Kernanliegen.
Würden Sie auch sagen: Besonders in Zeiten der Corona-Pandemie? Hat sich das gesellschaftliche Verhältnis zum Tod verändert? Verstärkt die Sorge um die Gesundheit die Angst vor dem Sterben? PISTORIUS Ich glaube, bei vielen Menschen hat eine Enttäuschung stattgefunden. Die Täuschung bestand in dem Glauben: Das Leben geht schon irgendwie immer so weiter. Aber das Leben ist in seiner Planbarkeit und Gleichförmigkeit ganz schön durcheinandergeraten. Die Menschen merken: Ich bin auf das Verhalten anderer angewiesen mit Blick auf meine Lebensperspektive. Die Pandemie hat vielen Menschen den Tod viel nähergebracht. Mit der Zahl der Infizierten wächst der Anteil jener, der die tödliche Bedrohung mit Namen und Gesichtern verbindet.
Sind die Menschen demütiger geworden? Vielleicht sogar gläubiger? PISTORIUS Was wir feststellen können, ist: Es gibt mehr Menschen, die das Leben als kostbares, aber zerbrechliches Geschenk wahrnehmen. Und viele denken jetzt intensiver darüber nach, was das Leben für sie eigentlich ausmacht – aber auch, was sie mit Blick auf das Ende ihres Lebens noch regeln müssen. Das bemerken wir vor allem bei der Nachfrage der Seelsorge-Angebote. Die Frage nach Gott rückt stärker in den Vordergrund – nicht zuletzt weil die zweite Corona-Welle in eine Jahreszeit fällt, in der man sowieso schon mehr Kraft braucht.
Die Corona-Krise ist da doch geradezu prädestiniert für die Kirche, Menschen wieder mehr für sich zu gewinnen. Wie hat sie das versucht, welche Angebote hat sie gemacht? PISTORIUS Alle Beratungsangebote gab es eigentlich durchgehend. Andere Formate haben wir verstärkt oder neu geschaffen: Digitalformate wie Gottesdienste, Impulse, Chatseelsorge, Gespräche über Blogs, aber auch das Telefonieren. Ich kenne einen Pfarrer, der hat sich eine Liste gemacht mit Menschen, die er regelmäßig anruft und denen er zum Beispiel Spaziergänge anbietet. Auch das ist eine Form der Lebensbegleitung, die tiefgehende Gespräche durchaus möglich macht.
Besonders tragisch ist der – durch Kontaktbeschränkungen bedingte – einsame Tod von Menschen in Pflegeheimen. Wie hat die Kirche darauf reagiert? Was ist anders als im Frühjahr?
PISTORIUS In der Anfangsphase der Pandemie hatten wir, so wie alle, keine Blaupause gehabt für die Situation, mit der wir konfrontiert waren. Wir haben verzweifelte Einrichtungen erleben müssen, die selbst suchend waren, was die Schutzmaßnahmen betrifft, und die selbst die Zahl der Menschen, die in den Häusern ein- und ausgehen, möglichst gering halten wollten. Jetzt sind wir ein gutes Stück weiter. Mir ist keine Einrichtung bekannt, die Seelsorgern aktuell den Zutritt verwehrt – es sei denn, das Infektionsgeschehen im Haus selbst ist zu groß.
Es wird also in diesem Winter niemand einsam sterben müssen? PISTORIUS Das ist unser Anspruch, ja, und da wollen wir alles für tun. Aber dabei sind wir natürlich auch auf Hinweise angewiesen.
Vielen Menschen hat Corona die Möglichkeit genommen, sich von Angehörigen richtig zu verabschieden. Gibt es da Nachwirkungen? PISTORIUS Ja, die gibt es, sogar bis hin zu Schuldgefühlen, wenn man Angehörige nicht auf ihrem letzten Weg begleiten konnte. Vor allem dann, wenn es noch familiäre Brüche und Konflikte gegeben hat.
Wie gehen Sie selbst als Betroffener in der Sorge um Ihre schwerkranke Frau mit dem christlichen Thema Hoffnung um?
PISTORIUS Ich bin dankbar, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, in der ich in Geborgenheit das Sterben und den Tod erleben durfte.
Und dass ich durch meine Eltern erfahren durfte, welche Quelle und welcher Trost der Glaube an Jesus Christus ist. In unserer Familie sind einige Menschen bis zum Tode gepflegt worden, und es war ganz selbstverständlich, dass das Sterben zum Leben dazugehört. Aus dieser Quelle schöpfe ich bis heute und lebe damit, dass seit mehr als 20 Jahren der wichtigste Mensch an meiner Seite mit einer Krebsdiagnose lebt – ohne Aussicht auf Heilung. Wir können für uns sagen: Jeder Tag ist ein Geschenk. Das hat mir auch die Kraft gegeben, meinen Vater, meine Schwiegereltern und auch ein tot geborenes Enkelkind selbst zu beerdigen.
Wie vermittelt die Kirche Hoffnung? Wie lässt sich Verzweifelten Halt geben?
PISTORIUS Ich versuche erst einmal zu erspüren, wo bei ihnen der Ankerpunkt ist. Ein Ankerpunkt für mich ist der tröstliche Bibelvers Jesaja 40, 31: „Die auf den Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“Du kannst jung sein, du kannst fit sein, du kannst so viel Sport machen wie du willst, das Hinfallen gehört trotzdem im Leben dazu, aber dann gibt es da ein Angebot: Gott. Das hat mich ganz gut durchs Leben getragen.
JULIA RATHCKE UND HORST THOREN FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.