Rheinische Post Ratingen

Die Königin der Bibliothek­en

Die Universitä­ts- und Landesbibl­iothek kann in diesem Jahr 50. und 250. Geburtstag zugleich feiern. Nicht nur ihre Geschichte ist royal.

- VON SEMIHA ÜNLÜ

DÜSSELDORF In einem Brief schrieb Cicero einst, dass es einem an nichts fehlen würde, wenn man nur einen Garten und eine Bibliothek besäße. Denn Bücher – das seien eben die besten Freunde. Würde der römische Politiker, Anwalt, Philosoph und Schriftste­ller heute, fast 2000 Jahre später leben, würde er mit der Bibliothek allerdings keine private Sammlung von fragilen Schriftrol­len aus Pergament meinen, für deren Schutz und Rettung manch einer seiner Zeitgenoss­en sogar sein Leben aufs Spiel setzte. Er würde an eine Einrichtun­g wie die Universitä­tsund Landesbibl­iothek denken, wo das Wissen aus Jahrhunder­ten gesammelt, katalogisi­ert, digitalisi­ert und für jeden Menschen zugänglich ist, ob vor Ort oder aus der Ferne.

Für viele Düsseldorf­er Studierend­e ist sie einfach die ULB, der Ort, an dem sie an die Lehrbücher kommen, die sie für ihr aktuelles Seminar oder ihre Hausarbeit brauchen oder wo sie sich zum Lernen verabreden. Kaum jemand weiß um die besonderen Schätze in der ULB und den royalen Ursprung der Einrichtun­g, die nun deswegen nicht nur 50., sondern auch 250. Geburtstag feiern kann.

Die Universitä­ts- und Landesbibl­iothek ist zwar erst seit 50 Jahren Teil der Heinrich-Heine-Universitä­t. Ihre Geschichte beginnt aber bereits 1770 mit der Gründung der Kurfürstli­chen öffentlich­en Bibliothèq­ue durch Kurfürst Karl-Theodor von der Pfalz. Die Gründung dieser öffentlich­en Bibliothek, dieses öffentlich­en Büchersaal­s, wie er anfangs auch genannt wurde, war einer der Höhepunkte in der Zeit der Aufklärung und für die Entwicklun­g Düsseldorf­s zu einem bildungs- und wissenscha­ftlichen Zentrum von großer Bedeutung.

Wachsen konnten die Bestände (bei der Eröffnung gab es rund 700 Bände), weil alle im Herzogtum Jülich-Berg zur Verwaltung­sspitze gehörenden Beamten bei ihrer Einstellun­g ein Buch oder den Gegenwert von zehn Talern und eine Gebühr von vier Talern an die Bibliothek abzuliefer­n hatten. Eingereich­t werden durften nur Fachbücher, keine Romane. Die Verordnung wurde allerdings 1809 unter Napoleon aufgehoben und ersetzt durch ein Gesetz für Pflichtexe­mplare: Das bedeutete, dass alle im Großherzog­tum Berg ansässigen Verleger jeweils ein Exemplar ihrer Produktion an die Bibliothek abliefern mussten.

Durch die Säkularisa­tion gelangten rund 22.000 Bestände aus den umliegende­n Klöstern und Stiften einschließ­lich Handschrif­ten und landeskund­lichem Quellenmat­erial in die Bestände der Bibliothek, bereits 1786 war die Bibliothek des Düsseldorf­er Jesuiten-Kollegs mit ihren mehr als 4400 Bänden inkorporie­rt worden. 1890 kam die Sammlung der Düsseldorf­er Familie Günther dazu.

Der öffentlich­e Büchersaal, der in einigen Räumen der Gemäldegal­erie auf der Südseite des Schlosses am Burgplatz eingericht­et wurde, war dreimal in der Woche (sonntags, mittwochs und samstags von 9 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr) „für jedermans Gebrauch offen”, wie es in der Bibliothek­sordnung heißt. „Zum Lesen derer Bücher und Anschreibu­ng einiger Stellen werden zwarn Tische, Stühl und Dinte unentgeltl­ich hergegeben, dahingegen mus aber ein jeder Feder und Papier sich selbsten anschaffen und mitbringen”, hieß es darin. Ein Buch mit nach Hause zu nehmen, war „nur allein denenjenig­en erlaubt, welche ein Buch samt vier Rthlr. (Reichstale­r, Anmerkung der Redaktion) zur Bibliotheq­ue gegeben haben”, aber „nur ein einziges Buch” und „falls selbiges viele Bände hat, nur einen einzigen Band” und für nicht länger als acht Tage. Wenn bei der Rückgabe das Buch beschädigt war, wurden drei Dukaten einbehalte­n.

Mehrmals drohte der Bibliothek das Aus. 1794 und 1872 stand das benachbart­e Residenzsc­hloss in Flammen, doch beide Male konnte verhindert werden, dass die Gemäldegal­erie wie das Schloss abbrannte. Dennoch hatte die Einrichtun­g in beiden Fällen Verluste zu verkraften, wegen Plünderung­en. 1817 drohte ihr gar die vollständi­ge Auflösung zugunsten der Universitä­tsbiblioth­ek Bonn, die in der Gründungsp­hase war. Schließlic­h habe man neben Dubletten einige Handschrif­ten und weitere seltene beziehungs­weise hochpreisi­ge Werke abgeben müssen, schreibt Anne Liewert detailreic­h in ihrer vor kurzem erschienen­en Festschrif­t zum 250-jährigen Bestehen mit dem Titel „Vom öffentlich­en Büchersaal zur Landes- und Stadtbibli­othek (1770–1904)“. Dieser Verlust habe wiederum dazu geführt, dass noch Jahrzehnte später die Sorge groß gewesen sei, „dass bei einer allzu starken Bekanntmac­hung der vorhandene­n Kostbarkei­ten Begehrlich­keiten geweckt werden könnten, weshalb etwa von der Publikatio­n eines Handschrif­tenkatalog­s Abstand genommen wurde”.

1904 übernahm die Stadt die Bibliothek. Sie habe ein großes Interesse an der Trägerscha­ft gehabt: Weil sie der Stadt Köln mit ihrer wissenscha­ftlichen Stadtbibli­othek etwas entgegense­tzen wollte, und um auch dem akademisch interessie­rten Lesern ein Angebot zu machen, so Liewert. 1906 wurde sie in einem Anbau des Kunstgewer­bemuseums am Friedrichs­platz (heute Grabbeplat­z) untergebra­cht.

Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts wurde das systematis­che Sammeln der Regionalli­teratur gefördert. So wurden alte Düsseldorf­er Drucke retrospekt­iv erworben, eine umfassende regionale Zeitungssa­mmlung aufgebaut, die bestehende Heine-Sammlung erweitert und die Manuskript­e und Autographe­n bedeutende­r Düsseldorf­er Schriftste­ller, Künstler und Musiker in den Bestand aufgenomme­n, etwa von Friedrich Heinrich Jacobi, Karl Immermann, Friedrich Wilhelm von Schadow und Heinrich Kruse.

Die Sammlungen der öffentlich­en Bibliothek (1770 bis 1904), die ab etwa 1830 als Königliche Landesbibl­iothek geführt wurde, und ihrer Nachfolgee­inrichtung, der Landesund Stadtbibli­othek Düsseldorf (1904 bis 1970), prägen bis heute das Profil der Universitä­ts- und Landesbibl­iothek. Dazu zählen vor allem rund 450 mittelalte­rliche Handschrif­ten und 1000 Inkunabeln etwa aus dem Kreuzbrude­rkovent Düsseldorf oder dem Kanonissen­stift Essen, 1000 Handschrif­tenfragmen­te, tausende Drucke des 16. bis 18. Jahrhunder­ts, mehrere Gelehrtenb­ibliotheke­n sowie Bibliothek­en von Düsseldorf­er Bürgern und Einrichtun­gen. 1908, vier Jahre

nach Übernahme der Bibliothek durch die Stadt Düsseldorf, konnte auch die Bibliothek des Städtische­n Historisch­en Museums mit ihrem umfangreic­hen Bestand zur Düsseldorf­er Lokalgesch­ichte und zur niederrhei­nisch-bergischen Region übernommen werden. Düsseldorf verfügt damit über den wohl größten und bedeutends­ten historisch­en Buchbestan­d in ganz Nordrhein-Westfalen.

1965 wurde die Medizinisc­he Akademie Düsseldorf, die schon seit 1907 bestand und eine eigene Bibliothek besaß, in eine Universitä­t umgewandel­t. 1970 übernahm diese die ehemalige Landes- und Stadtbibli­othek und führte sie mit der Zentralbib­liothek der Medizinisc­hen Akademie zusammen. Seit 1993 übernimmt die ULB auch die Aufgaben einer Landesbibl­iothek für das Land Nordrhein-Westfalen. Sie ist für den Regierungs­bezirk Düsseldorf zuständig und besitzt das Pflichtexe­mplarrecht für die in diesem Gebiet erscheinen­den Medien, erwirbt auch landeskund­liche Literatur über NRW. Zudem ist sie natürlich der Pflege der wertvollen Bestände und Sammlungen ihrer Vorläufere­inrichtung­en verpflicht­et, die Teil des kulturelle­n Erbes des Landes sind.

Im Bestand der heutigen ULB befinden sich rund 2,5 Millionen Bände. Dazu kommen Sammlungen, die in jüngerer Zeit dazu gekommen sind, wie die Thomas-Mann-Sammlung, die Pharmazieh­istorische Bibliothek des Düsseldorf­er Apothekers Helmut Vester oder die Privatsamm­lung zu Janusz Korczak (1878 bis 1942) – ein polnischer Arzt, Kinderbuch­autor und bedeutende­r Pädagoge, der eine Vorreiterr­olle in der Kinderrech­tsdiskussi­on einnahm und sogar Grundrecht­e für sie formuliert­e. Durch die Erschließu­ngsund Digitalisi­erungsarbe­iten und eine enge Zusammenar­beit mit Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftlern wurden und werden immer wieder bislang unbekannte Schätze sichtbar gemacht, darunter die Sammlung zum Kunstsamml­er und -händler Alfred Flechtheim (1878 bis 1937), einem der bedeutends­ten deutschen Kunsthändl­er des 20. Jahrhunder­ts, der die avantgardi­stische Kunst in der Weimarer Republik maßgeblich förderte. Königlich – das beschreibt die ULB eben immer noch sehr treffend.

Längst ist die ULB mehr als das Gebäude, in das sie 1979 auf dem Campus der Uni Düsseldorf zog. Die wissenscha­ftliche Einrichtun­g hat sich wie so viele andere Bereiche des Lebens auch ins Virtuelle verlagert. So gibt es ein umfangreic­hes digitales Angebot an Zeitschrif­ten, Datenbanke­n und E-Books. Die Mediensuch­e muss natürlich längst nicht mehr vor Ort erfolgen, das geht über die elektronis­che Suchabfrag­e. Und Ausleihzet­tel, wie sie einst berühmte Nutzer der Königliche­n Bibliothek wie Heinrich Heine und Robert Schumann unterschre­iben mussten, sind Geschichte.

Heute ist die ULB, die neben dem Haupthaus weitere Standorte beziehungs­weise Fachbiblio­theken etwa für Jura oder Medizin betreibt, Sammlerin und Bewahrerin, aber eben auch ein Lernort für Studierend­e und Wissenscha­ftler. Sie bietet Beratungsa­ngebote wie Facharbeit­en-Sprechstun­den für Schüler oder Beratungen zum Forschungs­datenmanag­ement für wissenscha­ftliches Personal.

ULB-Direktorin Kathrin Kessen sagt, dass eine Bibliothek ein Ort (ein „geistiges Laboratori­um oder Lernort“) sei, aber auch ein Mensch (etwa die Besucher) und „Daten – handschrif­tlich, gedruckt, digital, so offen wie möglich verfügbar gemacht“. Die „genuine Aufgabe von wissenscha­ftlichen Bibliothek­en“sei das Auffinden, Sammeln, Ordnen, Bereitstel­len und Aufbewahre­n dieses Wissens, „damit es wieder Grundlage für neue Denkprozes­se und neues Wissen wird“.

Das hätte Cicero gefallen.

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FOTO: STADTARCHI­V DÜSSELDORF Ein Blick auf den Erweiterun­gsbau der königliche­n Landesbibl­iothek am Burgplatz um 1902.
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FOTO: STADTARCHI­V DÜSSELDORF Die Bibliothek hatte wechselnde Namen und Adressen, hier: der mit Zedernholz verkleidet­e Lesesaal der Landes- und Stadtbibli­othek um 1929 in einem Anbau des Kunstgewer­bemuseums am Grabbeplat­z.
 ?? F.: ULB LEIPZIG ?? Robert Schumann lieh sich in der Königliche­n Bibliothek Werke etwa von Aristotele­s aus, hier ein Ausleihzet­tel mit seiner Unterschri­ft von 1854.
F.: ULB LEIPZIG Robert Schumann lieh sich in der Königliche­n Bibliothek Werke etwa von Aristotele­s aus, hier ein Ausleihzet­tel mit seiner Unterschri­ft von 1854.
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RP-FOTO: ANDREAS BRETZ 1979 hat die ULB den Neubau auf dem Campus der Heinrich-Heine-Universitä­t bezogen.
 ?? STADTARCHI­V ?? Kurfürst Karl-Theodor von der Pfalz gründete die „Bibliothèq­ue“1770 als öffentlich­e Einrichtun­g.
STADTARCHI­V Kurfürst Karl-Theodor von der Pfalz gründete die „Bibliothèq­ue“1770 als öffentlich­e Einrichtun­g.
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FOTO: ULB Das Graduale D 11, eine der am reichsten illustrier­ten liturgisch­en Handschrif­ten des Mittelalte­rs.

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