Das Standesamt birgt ein dunkles Geheimnis
Das prächtige Haus an der Inselstraße gehörte der Familie Lenzberg. Ihre Mitglieder wurden als Juden verfolgt.
PEMPELFORT Das Standesamt ist für viele Düsseldorfer ein Ort des Glücks. An der Inselstraße 17 wird geheiratet, das bedeutet für die meisten Menschen einen der schönsten Tage in ihrem Leben. Tausendfach wird dort jährlich der Bund fürs Leben geschlossen, anschließend geht es gegenüber in den Hofgarten zum Anstoßen. Kaum jemand weiß, dass das schöne Haus einmal einer Familie gehörte, die es unter Druck verkaufen musste und nach dem Krieg nur mäßigen Ausgleich erhielt. Das Schicksal der Familie Lenzberg ist durch das Raster der öffentlichen Aufmerksamkeit gefallen, der Umgang der Stadt mit einem seiner wichtigsten Gebäude wirkt geschichtsvergessen. Am Haus hängt zwar eine Gedenktafel, die jedoch stammt von der Düsseldorfer Gesellschaft für Rechtsgeschichte und verliert über das dunkle Kapitel kein Wort.
Das prunkvolle Haus war für Jahrzehnte ein Beispiel erfüllten großbürgerlichen Lebens. Bauherr war Hugo Lenzberg, der in Düsseldorf Richter und später Senatspräsident am Oberlandesgericht war, was heute einem Vorsitzenden Richter entspricht. Lenzberg war verheiratet mit Anna Beer, die aus einer vermögenden jüdischen Familie stammte. Ihr Vater war der Essener Bankier Moritz Beer. Über all dies und viele weitere Details haben das Stadtarchiv und die Mahn- und Gedenkstätte wenig Unterlagen oder Fotos vorliegen, Marita Frida Anna Münstermann dagegen verfügt als Zeitzeugin über viel Wissen, Briefe und Fotos. Sie ist 91 Jahre alt und lebt nur ein paar Meter vom Standesamt entfernt. Anna Lenzberg war ihre Patentante. „Die Lenzbergs waren für mich Familie“, sagt die Düsseldorferin, die von Anna Lenzbergs Enkelin Lia als Erbin eingesetzt wurde.
Marita Münstermanns Aussage nach ließen sich die Lenzbergs als Erwachsene evangelisch taufen. Im preußischen Beamtenstaat hätte Hugo Lenzberg als Jude keine Karriere machen können. Ihre Kinder seien in Gerresheim evangelisch getauft worden. Die Lenzbergs beauftragten einen bekannten Architekten mit dem Bau ihres 1898 fertiggestellten Wohnhauses: Josef Kleesattel, nach dessen Plänen in Düsseldorf allein neun Kirchen errichtet wurden, häufig mit Zweiturmfassaden (etwa St. Antonius in Oberkassel und St. Paulus in Düsseltal). Er plante aber auch die Synagoge an der Kasernenstraße. Diesen neoromanischen Bau ließen die Nazis 1938 in Flammen aufgehen. Kleesattel entwarf für die Lenzbergs ein repräsentatives Haus im neogotischen Stil mit gegliederter Schaufassade. Im Hochparterre gab es fünf Wohnräume, die heute als Trauzimmer im Standesamt beliebt sind. Im ersten Obergeschoss folgten weitere acht Zimmer.
Die Familie war kunstsinnig und beförderte das kulturelle Leben in Düsseldorf, was auf der Gedenktafel nachzulesen ist und beim Tag des offenen Denkmals gerne erwähnt wird. In dem Haus wurden Konzerte
gegeben, hier trafen sich bedeutende Künstler, mit den Komponisten Max Reger und Hans Pfitzner war der Jurist befreundet. Lenzberg war zudem Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, die ein Vorläufer der heutigen Max-Planck-Gesellschaft war. 1930 fertigte der bekannte Bildhauer Arno Breker für Lenzberg, der ihn förderte und ihn sogar für einige Monate im Haus an der Inselstraße mit wohnen ließ, zum Dank eine Bronzebüste an. Als der Senatspräsident 1932 starb, gestaltete Breker, der schon bald einer der Lieblingskünstler Adolf Hitlers und „gottbegnadet“werden sollte, das Grab auf dem Nordfriedhof.
Die Kinder des Paars waren Anne Marie, die als Sopranistin auf Konzertreisen gefeiert wurde und eine Platte mit Wilhelm Furtwängler aufnahm, und Karl, der als Psychiater praktizierte. Dieser sei anfangs von Hitler begeistert gewesen und in einem Auto mit Nazi-Standarte durch Düsseldorf gefahren. Die Familie
habe ihm jedoch schnell klar gemacht, so Münstermann, dass dies keine gute Idee war. Schon bald seien die Lenzbergs Anfeindungen ausgesetzt gewesen, denn nach den Nürnberger Gesetzen galten sie den Nazis rassisch als Volljuden. Bei der Reichspogromnacht am 9. November 1938 sei das Haus an der Inselstraße verschont geblieben, das Haus von Karl an der Freiligrathstraße, in dem er auch seine Praxis hatte, aber sei verwüstet worden. In den Wiedergutmachungsakten aus der Nachkriegszeit, über die das Stadtarchiv verfügt, berichtet darüber die Kunsthistorikerin Anna Klapheck, nach dem Krieg Professorin an der Kunstakademie. Sie war am Tag nach dem Pogrom in dem Haus Karls. „Der dabei sich bietende Anblick sei grauenhaft und das ganze Haus ein Bild willkürlicher und sinnloser Zerstörung gewesen“, heißt es in der Akte.
Die Lage spitzte sich weiter zu. Drei Tage nach dem Pogrom überließ Anna Lenzberg ihren beiden
Kindern das Haus Inselstraße, Karl schenkte seine Hälfte umgehend seiner Frau und Anne Marie ihre Hälfte ihrer Tochter Lia. Mitte September 1939 verkauften es die Lenzbergs an die Stadt Düsseldorf für 165.000 Reichsmark, der Preis lag 1500 Reichsmark über dem Einheitswert, der Marktwert dürfte jedoch deutlich höher gelegen haben. Der Vorgang hat Züge eines Zwangsverkaufs, sagt Benedikt Mauer, der Leiter des Stadtarchivs.
Karl Lenzberg emigrierte danach zunächst nach Utrecht und dann nach Venezuela. Sein Vermögen wurde laut Stadtarchiv mit rund 450.000 Reichsmark beziffert, er musste circa 112.000 Reichsmark Reichsfluchtsteuer zahlen. Anne Marie heiratete adelig und überlebte die NS-Zeit in Budapest als Baronin von Huszar.
Bis heute ist unklar, wie Anna Lenzberg zu Tode kam. Sie war von der Inselstraße ins Zooviertel gezogen, lebte dort aber nur kurz. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich, die letzten beiden Jahre verbrachte sie fast erblindet in der Golzheimer Klinik, die von Peter Janssen, mit dem sie verwandt war, gegründet worden war und geleitet wurde. Über Monate stand fest, dass Anna Lenzberg nach Theresienstadt deportiert werden sollte. Mittelsmänner ersuchten Arno Breker, wie Jürgen Trimborn in seiner Breker-Biografie herausgearbeitet hat, in Berlin um Intervention. Der aber habe keinen Finger für seine Gönnerin gerührt. Sie starb einen Tag vor der Deportation am 20. Juli 1942 mit 77 Jahren. Wie? Sie habe vielleicht gnädige Ärzte gehabt, vermutet Marita Münstermann, in der Familie sei darüber nicht gesprochen worden. Ein Suizid ist nicht nachgewiesen. Anna Lenzberg gilt deswegen bisher noch nicht als NS-Opfer, wie Bastian Fleermann von der Mahn- und Gedenkstätte bestätigt.
Anne Marie und Karl kehrten rasch nach dem Krieg nach Düsseldorf zurück. Ihr Elternhaus war seit 1941 „Standortgebührnisstelle“, die unter anderem Wehrsold auszahlte. Ab September 1945 ist die Nutzung als Standesamt belegt. Karl Lenzberg hatte in Venezuela nicht praktizieren können, er war durch sein Schicksal niedergedrückt und wollte sein Elternhaus nicht zurück, wie Marita Münstermann berichtet. Das Verhalten der Behörden, die sogar um die Maklerkosten des Hausverkaufs feilschten, habe die Lenzbergs ohnehin zornig gemacht.
Die Wiedergutmachungsakten sind ein beschämendes Beispiel für den Umgang des jungen deutschen Staates mit den Verfolgten. So stellte Karl Lenzberg Anträge auf Entschädigung für die Schäden des Pogroms und musste erleben, wie penibel die Beamten darauf achteten, bloß keine Mark zu viel zu erstatten. Es gab beispielsweise lediglich 300 Mark für eine zerstörte Büro-Schreibmaschine, Typ Underwood. Die Behörde verwies auf das Gesetz, nach dem aktuellen Wiederbeschaffungswert zu berechnen, dabei aber auch den damaligen Zustand der Maschine berücksichtigen zu müssen – und die sei ja 1938 schon gebraucht gewesen. Beim zu 75 Prozent zerstörten Treppenläufer heißt es: „In diesem Fall ist Entschädigung in Höhe von 1000,-- DM beantragt worden. Bei Zugrundelegung von 50 laufenden Metern und einem Preis von 12,-- DM für einen Meter Kokosläufer ergibt sich ein Wiederbeschaffungswert von 600,-- DM. Hiervon 75 % = 450,-- DM. Eine höhere Entschädigung kann bei dieser Position von der Entschädigungsbehörde nicht bewilligt werden.“Mauer nennt das Verhalten der Behörde „völlig menschenunwürdig“.
Wegen des Hauses Inselstraße 17 führten die Lenzbergs ein Rückerstattungsverfahren durch, das im August 1951 durch einen Vergleich beendet wurde. Die Stadt Düsseldorf behielt das Haus und zahlte zur Abgeltung aller Wiedergutmachungsansprüche 195.000 D-Mark, Nutzungsentschädigung inklusive.
Marita Münstermann findet, die Stadt habe das Haus „für ’nen Appel und ein Ei“erhalten und hätte im Angesicht der Geschichte zumindest die Grabstätte der Lenzbergs zum Ehrengrab machen können. Sie selbst hat die Gedenktafel mitfinanziert und dem Stadtmuseum ein Porträt Anna Lenzbergs überlassen, das jetzt in einem der Trauzimmer hängt. Die Breker-Büste Hugo Lenzbergs haben Metalldiebe 2007 vom Grab entwendet, Marita Münstermann hat sie durch eine Sandsteinbüste ersetzt. Für Mauer wäre eine Gedenktafel angemessen, welche den Düsseldorfern mehr erzählt über die Geschichte des Hauses und dem Schicksal seiner Bewohner.
Die Lenzbergs wurden als Juden verfolgt, die sie nicht waren, und es ist formell unklar, ob Anna Lenzberg ein NS-Opfer war. Immerhin widmet der Stadtführer „Zeitspuren in Düsseldorf“, herausgegeben vom Förderkreis der Mahn- und Gedenkstätte, dem Standesamt eine Seite. Ins große Düsseldorf-Lexikon mit seinen mehr als 2100 Artikeln auf 850 Seiten haben es die Familie und ihr Haus, anders als Arno Breker, nicht geschafft.