Das Virus macht einfach
Schon vor den eigentlichen Bund-Länder-Gesprächen gibt es kräftig Streit. Am späten Abend steht der ganze Gipfel vor dem Scheitern.
BERLIN Es ist der dramatischste Gipfel der Pandemie in Deutschland, diese Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März im Jahr eins nach Beginn der Krise. Ein Scheitern ist am Abend nicht ausgeschlossen. Eine Viererrunde hat sich seit Stunden zurückgezogen: Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD), Bayerns Ministerpräsident und CSUChef Markus Söder und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Sie beraten über den Osterurlaub der Deutschen.
Die Kanzlerin hat einen klaren Standpunkt. Sie fürchtet die dritte Welle, das exponentielle Wachstum der Infiziertenzahlen mehr als alles andere. Und ist deswegen strikt gegen einen Osterurlaub, auch im eigenen Bundesland, so kontaktarm er auch sein mag. Über Reisen nach Mallorca schüttelt sie ohnehin nur den Kopf. Doch auch CDU-Ministerpräsidenten widersprechen ihrer Regierungschefin. Sie wollen den Menschen zumindest ein bisschen Normalität zurückgeben. Ob es eine Einigung gibt? Noch nach 23 Uhr am Montagabend ist es unklar.
Doch der Reihe nach: Noch vor zwei Wochen hatte man es sich sehr schön vorgestellt. Bei den Beratungen schwang Anfang März die Idee mit, kurz vor den Osterferien weitere Öffnungen zu verkünden. Doch es kommt anders, das Virus gibt nicht auf. Im Gegenteil: Die Infektionszahlen steigen wieder exponentiell, befeuert durch die Virusvarianten.
Bundesweit ist die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche bereits über 100 gestiegen. Zur Erinnerung: Bei den vorletzten Beratungen hatte Merkel 35 als Devise ausgegeben. Die Menschen dagegen, sie werden stetig pandemiemüder.
Dennoch: Vor Beginn der Beratungen am Montag im Kanzleramt
ist die generelle Verlängerung des Lockdowns über den März hinaus zwischen Kanzlerin, Ministerpräsidentinnen und -präsidenten unstrittig. So kommt es auch. Um 16.30 Uhr dringt nach draußen: Lockdown bis 18. April. Das berichten mehrere Teilnehmer übereinstimmend.
Doch viele Details, viele Ideen sind offen – über sie wird es im Laufe des Abends noch reichlich Streit geben. Die Kanzlerin jedenfalls hatte ihre Haltung schon am Freitag deutlich gemacht: Man werde leider „auch von dieser Notbremse Gebrauch machen müssen“, hatte sie gesagt. „Ich hätte mir gewünscht, dass wir ohne diese Notbremse auskommen, aber das wird nicht möglich sein, wenn ich mir die Entwicklung der letzten Tage anschaue.“Merkel ärgert es, dass die am 3. März von Bund und Ländern beschlossene Regelung für Hotspots mit einer Inzidenz ab 100 nicht überall gleich konsequent umgesetzt wird.
Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) wiederum sieht die vom Kanzleramt ins Spiel gebrachten Ausgangssperren „skeptisch“. In einer Beschlussvorlage vom Vorabend steht, dass Regionen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100 Ausgangsbeschränkungen erlassen – von einer noch zu verhandelnden Uhrzeit am Abend bis 5 Uhr morgens. Diese Idee stößt bei vielen Regierungschefs auf Unverständnis.
Müller und Söder wurden am Nachmittag bereits von Demonstranten vor dem Kanzleramt begrüßt. „Urlaubsreisen sind keine Pandemietreiber“steht auf Transparenten zu lesen. Die Debatte um die hohe Zahl an Deutschen, die dieser Tage auf Mallorca Urlaub machen, während hierzulande der Tourismus weiter auf Eis gelegt ist, sie ist bei den Verhandlern drinnen so umstritten wie in der Öffentlichkeit. Es geht erbittert hin und her. Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein,
Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz werben für ihren Vorschlag eines „kontaktarmen Urlaubs“im eigenen Bundesland. Allerdings werde der Vorschlag wohl nur als Protokollnotiz in die geplante Bund-Länder-Erklärung angefügt, heißt es später.
Doch selbst darum wird gestritten. Merkel will keine Protokollerklärung. Die Diskussion wogt hin und her. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) ist sauer auf das Auswärtige Amt. Die Reisewarnung für Mallorca aufzuheben sei unklug gewesen. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) ist sauer auf Merkel. Er kritisiert ihre Haltung heftig. Um kurz vor 19 Uhr reicht es der Kanzlerin: „Das Virus verhandelt nicht, es macht“, wird sie zitiert. Sie unterbricht die Runde, zieht ihre persönliche Notbremse. Die bisher vereinbarten Maßnahmen seien nicht ausreichend, um die Infektionsdynamik zu brechen, betont sie. So könne man in der Öffentlichkeit nicht bestehen.
Und unterbricht die Sitzung. Ausgang ungewiss.
Die Beratungen waren noch nicht beendet, als diese Zeitung produziert wurde.