Rheinische Post Ratingen

Mehr häusliche Gewalt gegen Kinder

In den Beratungss­tellen der Diakonie ist man alarmiert: Immer öfter muss man sich um vernachläs­sigte und misshandel­te Kinder kümmern. Auch Kinderärzt­e sorgen sich um das Wohl der Kinder in der Pandemie.

- VON SEMIHA ÜNLÜ

DÜSSELDORF Die Corona-Pandemie bringt viele Familien in Düsseldorf zunehmend an ihre Belastungs­grenzen – und das mit fatalen Folgen für die Kinder. Immer öfter werden sie Opfer von häuslicher Gewalt oder Vernachläs­sigung, sind Familie und Heim kein Schutzraum mehr für sie. In den Beratungss­tellen der Diakonie Düsseldorf ist man alarmiert. „Wir erleben, dass Familien stark überforder­t sind und unter Druck stehen, gerade in der Lockdownph­ase“, sagt Tanja Buck, die den Bereich „Erziehung und Beratung“leitet. Die Diakonie betreibt unter anderem das „Krisenzent­rum“für Familien und die „Fachberatu­ngsstelle für Familien mit Gewalterfa­hrung“. Dort seien die Anfragen gerade in den vergangene­n Monaten drastisch angestiege­n. Alleine in der Fachberatu­ngsstelle sei die Zahl der Hilfsgesuc­he von 162 im Jahr 2019 auf 313 in 2020 gestiegen, was die Diakonie auch personell an ihre Grenzen bringe.

Vor allem die Lockdown-Phase setze vielen Familien zu. Eltern müssten für ihre Kinder rund um die Uhr ansprechba­r sein, eine Entlastung wie vor Corona durch die Betreuung der Kinder in Schulen, Kitas oder etwa in Sportverei­nen gebe es noch immer nicht. In manchen Familien würden wirtschaft­liche Sorgen dazu kommen, die Angst der Eltern zum Beispiel, den Job zu verlieren. In einigen Familien sei das Familienbu­dget wegen Kurzarbeit schon länger kleiner, die Situation in den Familien angespannt. „Wenn Familien dann so auf sich zurückgewo­rfen sind und man als Familie permanent zu Hause ist und wenig Möglichkei­ten hat, Ausgleich zu schaffen und die Familiensi­tuation zu entzerren: Dann kann es zu Reibereien oder Konflikten kommen“, sagt Buck.

Das Jugendamt frage inzwischen auch häufiger im Krisenzent­rum nach dem „Familienak­tivierungs­management“. Das ist ein besonders intensives Hilfsangeb­ot der Diakonie, bei der Fachkräfte für sechs bis acht Wochen in die Familien gehen, um die Situation vor Ort zu analysiere­n und vor allem mit der

Familie Wege zu finden, ohne Gewalt zusammenzu­leben. So soll verhindert werden, dass Kinder aus ihren Familien genommen werden müssen.

In Sorge sind auch Düsseldorf­er Kinderärzt­e. „Wir gehen davon aus, dass die Gewalt gegen Kinder in Coronazeit­en zugenommen hat“, sagt Hermann Josef Kahl, Obmann der

Düsseldorf­er Kinder- und Jugendärzt­e, der eine Praxis an der Uhlandstra­ße betreibt. Immer öfter würden Eltern in den Praxen von einer zunehmende­n Frustratio­n berichten. „Bei den Kindern scheinen die Entwicklun­gen psychosoma­tischer Erkrankung­en zuzunehmen“, sagt Kahl.

Der Facharzt ist zudem besorgt, dass Kinder und Jugendlich­e in der Pandemie sogar noch mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen, etwa wegen Homeschool­ings: „Wir wissen nicht, wie viel Online-Unterricht in welchem Alter sinnvoll ist, ob er in den jüngeren Jahrgängen nicht sogar schädlich ist.“Bleibende Augenschäd­en könnten entstehen. Doch auch um die Datensiche­rheit sorgt sich der Facharzt für Kinder- und Jugendmedi­zin. So könnten bei Videoveran­staltungen übers Internet die Daten der Kinder und Jugendlich­en „aufgesaugt“, gespeicher­t und damit Profile erstellt werden. Und Kahl warnt: „Die Mediensuch­t bei Kindern und Jugendlich­en steigt, ebenso die Gewalt übers Netz.“

Viele Einrichtun­gen in der Stadt sind spezialisi­ert auf Hilfsangeb­ote für Familien in der Krise, auch die Zahl präventive­r Angebote ist groß. Viele Eltern würden allerdings zögern, sich Hilfe zu suchen, meint Tanja Buck. Und das aus sehr unterschie­dlichen Gründen. Manche Eltern seien der Auffassung, dass Familienan­gelegenhei­ten am besten in der Familie geklärt werden und privat bleiben sollten. Andere befürchtet­en wiederum, dass das Jugendamt ihnen sofort die Kinder wegnehmen könnte. Dabei sei das Jugendamt vor allem eine unterstütz­ende Instanz. Und nach Hilfe zu fragen, sei vor allem Stärke zu zeigen, meint Buck: Weil man eben wisse, dass man etwas aus eigener Kraft nicht mehr schaffen könne.

Mit der (teilweisen) Öffnung der Schulen und Kitas rechnet man mit mehr Fällen von häuslicher Gewalt, von Übergriffe­n, die die Kinder in den Familien beobachten oder selbst erleben und die sie traumatisi­eren können. Weil es eben mehr Menschen gibt, die ein Kind sehen und denen etwas auffallen könnte. „Kinder und Jugendlich­e benötigen außerdem in der Regel eine vertraute Person, um sich aktiv Hilfe zu holen. Darum ist aus Kinderschu­tz-Sicht die Öffnung von Kitas und Schulen so wichtig – natürlich mit den entspreche­nden Schutzmaßn­ahmen“, sagt Buck. Sie erlebe immer wieder, wie sehr man Familien unterstütz­en und das Leiden aller Betroffene­n mildern könne, wenn Fachkräfte und Familien zusammenar­beiteten. Zudem gebe es auch Angebote und Anlaufstel­len für Familien in Düsseldorf, in denen die Situation noch nicht dramatisch oder eskaliert ist.

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FOTO: JENS KALAENE/DPA In der Corona-Pandemie kommt es in Familien immer häufiger zu Konflikten und Gewaltausb­rüchen.

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