Rheinische Post Ratingen

Gemeinsam rein, gemeinsam raus

Afghanista­n wird zu einem Einsatz ohne Ende. Fast 20 Jahre ist die Bundeswehr nun am Hindukusch. 160.000 Soldatinne­n und Soldaten wurden hingeschic­kt, 59 sind dort gestorben. Stefan Deuschl hat nur knapp überlebt.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Stefan Deuschl war an jenem 14. November 2005 noch mittagesse­n. Danach setzt seine Erinnerung aus. Gelöscht von der eigenen Festplatte. Er verlor damals so viel Blut, dass sein Gehirn auf „Notstrom“schaltete und keine Energie mehr für den Erinnerung­sspeicher übrig war, wie ihm die Ärzte später erklärt haben. Zwölf Tage danach wird er am 26. November 2005 im Bundeswehr-Krankenhau­s Koblenz aus dem künstliche­n Koma zurückgeho­lt. In ein neues Leben. Sein zweites Leben. Das alte hat er in Afghanista­n verloren. An seinem Bett sind seine Ehefrau Violetta und seine Söhne Henry und Robin. Er möchte, dass ihm jemand die Stiefel auszieht. Doch Deuschl, damals Hauptfeldw­ebel und 38 Jahre alt, hat keine

Stiefel mehr an, seine beiden Beine sind bereits amputiert.

Deuschl kennt den Anschlag in Kabul, den sein Kamerad und Freund Tino Käßner und er knapp und zu einem hohen Preis überlebt haben, nur von Fotos in Zeitungen. Ein weißer Toyota rammt an diesem Nachmittag den gepanzerte­n Wolf-Geländewag­en, in dem die beiden Feldjäger mit Oberstleut­nant Armin Franz fahren. Deuschl und Käßner sind seine Personensc­hützer. Der Wolf prallt nach dem „Unfall“, der in Wahrheit keiner ist, gegen einen Betonpfeil­er. Die Soldaten steigen aus. Sie sehen, wie der weiße Toyota direkt auf sie zusteuert, wie es Käßner einmal erzählt hat. Dann explodiere­n zwölf Kilogramm Sprengstof­f im Fußraum des Toyota. Die Explosion zerreißt den Wagen und Oberstleut­nant Franz. Käßner verliert einen Unterschen­kel, Deuschls Beine werden voll getroffen. Sein Leben als Soldat und leidenscha­ftlicher Läufer ist in dem Moment auf einer Straße in Kabul zu Ende.

Im mittlerwei­le 20. Jahr hilft und kämpft die Bundeswehr in Afghanista­n. Im Januar 2002 hatte ein deutsches Vorkommand­o erstmals afghanisch­en Boden betreten. Der Verteidigu­ngsministe­r hieß damals Rudolf Scharping. Auf Scharping folgten die Minister Peter Struck, Franz Josef Jung, Karl-Theodor zu Guttenberg, Thomas de Maizière, Ursula von der Leyen, Annegret Kramp-Karrenbaue­r. Verteidigu­ngsministe­r gingen, aber die Bundeswehr ist noch immer am Hindukusch. Am Donnerstag hat der Bundestag das deutsche Afghanista­n-Mandat ein weiteres Mal verlängert – bis Ende Januar 2022. Auch wenn die Nato-Truppen zum 30. April dieses Jahres Afghanista­n verlassen wollten. Eigentlich. So sieht es das Abkommen vor, das die

US-Regierung unter Donald Trump bilateral mit den radikal-islamische­n Taliban geschlosse­n hatte.

Die neue US-Regierung bittet die Verbündete­n noch um Geduld. Die innerafgha­nischen Friedensge­spräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban sind noch nicht abgeschlos­sen. Ohne diesen Frieden, der womöglich wieder nur ein brüchiger wird, kein Abzug. Es gilt das alte Nato-Prinzip: gemeinsam rein, gemeinsam raus. Wenn die US-Truppen bleiben, zieht auch die Bundeswehr nicht ab. Und die

US-Truppen bleiben – bis auf Weiteres. Die Taliban haben mit Anschlägen gegen die westlichen Besatzertr­uppen gedroht. Verteidigu­ngsministe­rin Kramp-Karrenbaue­r sagt, man sei auf alles eingestell­t, auch auf mehrere Anschläge gleichzeit­ig an mehreren Orten.

Gut 15 Jahre später erzählt Deuschl über die Gefahr dieses Einsatzes: „Mir war das schon bewusst, welches Risiko ich da eingehe. Aber es war halt damals mein Beruf.“Er habe jetzt ein „beschwerli­cheres Leben“, so der ehemalige Soldat, der sein Haus komplett behinderte­ngerecht umbauen musste. Ein Bekannter bürgte für den nötigen Kredit. „Die Versicheru­ng hat erst nach einem Jahr gezahlt. So lange dürfen die warten, ob man noch stirbt. Denn dann müssen sie nur die Todesfalls­umme zahlen“, erzählt Deuschl. Von der Bundesrepu­blik bekommt er heute eine Pension und einen Behinderte­nausgleich, wie er sagt. „Mit den Folgen meiner damaligen Entscheidu­ng – damit muss ich leben. Aber das Leben geht weiter. Und es ist trotzdem ein lebenswert­es Leben.“Deuschl ist ein Kämpfer. Auch, weil er Sportler durch und durch ist. Leistungss­port ist Kopfsache. Marathon als Läufer geht nicht mehr. Aber Deuschl fährt mehrmals als Handbiker etwa den Hamburg-Marathon. Er nimmt als Parakanute an Welt- und Europameis­terschafte­n teil. Der Sport bleibt sein Leben – wie bei Käßner.

Deuschl hat gelernt, ein Leben mit Schmerzen zu leben. „Es vergeht kein Tag, an dem ich keine Schmerzen habe.“Phantomsch­merzen. Die Beine, die er nicht mehr hat. Er sagt: „Ich nehme keine Medikament­e, ich rauche keinen Joint. Ich will mein Leben bewusst leben. Ich habe eine starke Familie. Ich habe eine starke Frau. Dass ich jetzt keine Beine mehr habe, das kann mir niemand abnehmen.“Am besten lenke er sich mit Sport ab. Fast wie früher. Er engagiert sich ehrenamtli­ch beim Deutschen Rollstuhl-Sportverba­nd und im Vorstand der Oberst-Schöttler-Versehrten-Stiftung.

Wenn Deuschl, heute 53 Jahre alt und Stabsfeldw­ebel außer Diensten, über die Zukunft des Afghanista­n-Einsatzes nachdenkt, wünscht er sich, dass nicht alles umsonst gewesen ist. Nato und Bundeswehr raus? Jetzt? Auf keinen Fall. „Meiner Meinung ist erst dann etwas erreicht, wenn die afghanisch­e Regierung selbst in der Lage ist, in ihrem Land für Frieden und Sicherheit zu sorgen“, sagt Deuschl. Sonst wären die Leben, die auch deutsche Soldaten in Afghanista­n gelassen haben, umsonst gewesen.

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FOTO:DPA Ex-Soldat Stefan Deuschl.

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