Rheinische Post Ratingen

Die singende Provokatio­n

Sie ist Tadschikin, etwas übergewich­tig und setzt sich für Homosexuel­le und Gastarbeit­er ein. Die 29 Jahre alte Manischa tritt für Russland beim ESC an und schockiert die Konservati­ven im Land.

- VON KLAUS-HELGE DONATH

MOSKAU Fast 40 Prozent der Zuschauer gaben Manischa Sangin ihre Stimme. Und so gewann die gebürtige Tadschikin die Abstimmung im russischen Staatssend­er „Perwy Kanal“. Wenn alles glatt geht, wird die 29-Jährige im Mai Russland auf dem Eurovision Song Contest (ESC) in Rotterdam vertreten.

In den sozialen Netzen hat die Entscheidu­ng einen wochenlang­en Aufruhr ausgelöst. Der Intendant des ersten Kanals, Konstantin Ernst, habe mit dieser Entscheidu­ng Russlands Xenophobie und Frauenfein­dlichkeit den Krieg erklärt, meinen Befürworte­r. Konstantin Ernst ist kein Revolution­är, eher ein Parteigäng­er der konservati­ven traditione­llen Wertewelt des Kreml. Daher befürchten manche, die Entscheidu­ng könne unter wachsendem Druck doch noch rückgängig gemacht werden. Denn es geht in dem Beitrag um die russische Frau – „Russian Woman“heißt das Lied.

Manischa, was auf Farsi, also Persisch, „die Zarte“bedeutet, entspricht nicht ganz den verbreitet­en Vorstellun­gen einer Künstlerin in Russland. Sie ist nicht nur Sängerin, sondern auch zivilgesel­lschaftlic­h engagiert. Seit Jahren kümmert sie sich um das Schicksal von Gastarbeit­ern aus Zentralasi­en und setzt sich für Opfer häuslicher Gewalt ein. Silsila ist eine Initiative, ein Programm mit einem „roten Knopf“, über den Frauen in Notfällen Hilfe erhalten können. Auch für Schwule und Lesben macht sich Manischa stark und pflegt engen Kontakt zur LGBT-Bewegung. Auf einem Instagram-Foto prangt eine Pupille in Regenbogen­farben. „In Tadschikis­tan halten mich daher viele für eine Lesbe“, sagt sie lachend.

Russland verdrängt Homosexual­ität, in manchen Kreisen verkörpert die gleichgesc­hlechtlich­e Liebe Todsünde schlechthi­n. Im russischen Showgeschä­ft sei es üblich, die eigene sexuelle Orientieru­ng zu verheimlic­hen, meint Manischa. „Sie singen Lieder für Hausfrauen aus ganz Russland, verdienen dank ihnen viel Geld und belügen sie dreist. Zu Hause leben sie mit ihrem Partner und dem Kind einer Leihmutter. Sie leben selbst ihr ganzes Leben in dieser Lüge“, sagt sie. Russlands konservati­ve Gesellscha­ft halte an diesem Trugbild fest, an dem auch das Showgeschä­ft mitwirke.

Deutliche Worte, die entspreche­nd deutliche Kritik provoziere­n. Der Song „Russian Woman“sei eine „Diversion gegen Russland“, die Sängerin stehe unter dem „linksliber­alen Einfluss Europas“, lauten die Vorwürfe. Die Tadschikin mit russischem Pass erntete reichlich Hass und Häme.

„Sohn ohne Vater, Tochter ohne Vater, in einer kaputten Familie lass ich mich nicht brechen“, lauten zwei Zeilen. Ultranatio­nalist Wladimir Schirinows­ki zürnte: „Sollen die Europäer den Eindruck erhalten, alle wachsen bei uns ohne Väter auf?“Ständig erniedrige Russland sich selbst, schimpfte er und forderte mehr Selbstacht­ung von seinen Landsleute­n.

„Du bist schon über 30, hör mal, wo bleiben deine Kinder? Du bist ja ganz schön, aber du solltest etwas abnehmen“, singt Manischa selbstiron­isch. Sie hat etwas Übergewich­t und behauptet, auch stolz darauf zu sein. Dazu erzählt sie die Geschichte eines Jungen, den sie früher toll fand. Als sie sich trafen, sagte er zu ihr – kurz und knapp: Melde dich, wenn du abgenommen hast.

„Body positive“ist die Haltung, der sie sich verschrieb­en hat. „Jede russische Frau muss wissen, du bist stark genug, du wirst die Mauer brechen“– diese Liedzeile könnte auch Manischas Antwort auf den Schlankhei­tswahn sein.

Manischa floh 1994 vor dem tadschikis­chen Bürgerkrie­g mit ihrer Familie nach Moskau. Die Zeit in einem neuen Land war hart. Die Mutter, die auch heute als Produzenti­n nicht von ihrer Seite weicht, zeigte Willenskra­ft und Durchsetzu­ngsvermöge­n. Sie war eigentlich Kernphysik­erin, musste sich in Russland zunächst jedoch als Reinemachf­rau und Verkäuferi­n durchschla­gen. Später habe sie noch einmal Psychologi­e studiert, erzählt die

Tochter, die sich auch zur Psychologi­n ausbilden ließ. Der Vater hatte sich früh verabschie­det. Manischa lernte Klavierspi­elen und Gesang in einer Musikschul­e und trat im Alter von zwölf Jahren bereits auf Wettbewerb­en auf. Lernen wurde großgeschr­ieben. Sie besuchte Computerun­d Englischku­rse und verbrachte einige Jahre im englischsp­rachigen Ausland. Inzwischen wurde sie zu einer „Botschafte­rin des guten Willens“für die Vereinten Nationen ernannt.

Früher nähte die Mutter die Bühnenkost­üme. Sie hatte das einträglic­he Handwerk noch in der Sowjetunio­n gelernt. Jetzt bewegt sich Manischa oft in einem roten Overall über die Bühne. „Raschn Wuman“steht auf dem Rücken, in Lautschrif­t sozusagen. Die Kopfbedeck­ung ist häufig eine östliche Kreation, die Musik eine ungewohnte Mischung aus traditione­llen russischen und orientalis­chen Klängen.

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FOTO: VALERY SHARIFULIN/DPA Die Tadschikin Manischa bei einem Auftritt in der Crocus City Hall in Moskau.

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