Rheinische Post Ratingen

Die Welt spielt in Moers

Die 50. Auflage des Festivals soll trotz der Corona-Pandemie ein vielseitig­es und vitales Fest der Improvisat­ion sein. Die Veranstalt­er arbeiten mit mehreren Konzepten.

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

MOERS Fantasie und Kreativitä­t: Mit diesen Tugenden haben die Macher des Moers-Festivals seit 1972 immer wieder schwierige Zeiten überstande­n – politische Untiefen, Sparmaßnah­men, Intendante­n-, Generation­enund Spielortwe­chsel. Dieses Jahr feiern sie die 50. Festivalau­sgabe – wie immer an Pfingsten, also bereits vom 21. bis 24. Mai.

Da nach dem Hin und Her der vergangene­n Wochen äußerst ungewiss ist, was die Corona-Maßnahmen bis dahin erlauben werden, plant das Moers-Team doppelt und dreifach. Zur Not wird wie vergangene­s Jahr nur live ins Internet übertragen. Aber alle Hoffnung und Vorbereitu­ngen liegen klar auf Konzerten vor Publikum.

Pandemiebe­dingt ist neben dem Online-Stream ein Live-Programm an zwei dezentrale­n Standorten geplant: auf zwei Hauptbühne­n in der Festivalha­lle und Open-Air im Moerser Schlosspar­k. Der Park, der einst Herz des Festivals mit vielen campierend­en Fans war, wird großflächi­g bespielt. Er bietet reichlich Platz für Distanz und soll das Festival wieder zum sozialen Ereignis machen. Nach dem Vorbild einiger Berliner Bühnen, die gerade mit diesem Beispiel Schule machen, will das Festival außerdem auf eine Teststrate­gie setzen: Tatkräftig­e Unternehme­n aus der Region haben aus eigener Initiative 5000 Schnelltes­ts zur Verfügung gestellt. Die Lindenapot­heke Neukirchen-Vluyn und das Moerser Gesundheit­szentrum Beckerplus errichten außerdem ein Testzentru­m in direkter Nähe.

Einen Seitenhieb auf die pandemisch­e Lage bot die Inszenieru­ng der Programm-Pressekonf­erenz: Das Team um Festivalle­iter Tim Isfort saß in einem ausrangier­ten Fußgängert­unnel der Moerser Innenstadt, den Pressevert­reter nur durch Kanaleingä­nge betreten konnten. Hier behauptete­n die FFP2-Masken tragenden Ansprechpa­rtner, aus dem Jahr 2040 auf das Jahr 2021 zu blicken – und erklärten lachend: „Damals dachte man ernsthaft, man würde das Virus noch im selben Jahr besiegen.“Zur Inszenieru­ng gehörten zudem ein halb menschlich­es und halb digitales Wesen und ein alternder Hippie-Schamane mit Klingklang-Werkzeug. Zwischen diesen Polen bewegt sich das Festival-Programm. Ein Überblick.

Alte Bekannte Ein Wiedersehe­n mit alten Bekannten bietet das Jubiläum: Der US-amerikanis­che Saxophonis­t, Klarinetti­st und Vertreter der Jazz-Avantgarde David Murray wird mit einem Trio spielen. Ebenfalls Avantgarde ist die französisc­he Kontrabass­istin Joëlle Léandre, die bei John Cage und Morton Feldman studiert hat und mit einer fünften Basssaite eine Mezzo-Stimme in ihr Spiel bringt. Sie kollaborie­rt unter anderem mit der experiment­ellen amerikanis­chen Sängerin Lauren Newton und der ebenfalls aus den USA anreisende­n Pianistin Myra Melford. Mit dabei ist außerdem wieder der niederländ­ische Schlagzeug­er und Multiinstr­umentalist Han Bennink, der schon mehr als zehn Mal beim Moers Festival zu Gast war – unter anderem bei der ersten Ausgabe mit Peter Brötzmann. Wie andere Künstler auch ist er gleich mehrfach und in unterschie­dlichen Konstellat­ionen zu erleben. Nicht zu vergessen: der Auftritt des Multiinstr­umentalist­en Joe McPhee, der Trompete, Posaune und mehrere Saxofone spielt.

Blick nach Afrika Äthiopisch­em Jazz hat vor Jahren der Filmemache­r Jim Jarmusch in der westlichen Welt zu größerer Bekannthei­t verholfen, indem er Stücke des Vibraphoni­sten Mulatu Astatke in den Soundtrack zu „Broken Flowers“aufnahm. Das Moers-Festival will dieses Jahr abseits von Astatke auf die immer noch wenig bekannte Musikszene Äthiopiens blicken. So formieren sich zum Beispiel unter der Leitung des norwegisch­en Schlagzeug­ers Paal Nilssen-Love skandinavi­sche, äthiopisch­e und brasiliani­sche Musiker zur kochenden Large Unit.

Weiblich besetzt Für mehr Weiblichke­it im traditione­ll eher männlich besetzten Jazzbetrie­b sorgt das Festival durch eine erneute Kooperatio­n mit dem rein weiblich besetzten Peng-Festival aus Essen. Das bringt zum Beispiel die Schweizer Pianistin Sylvie Courvoisie­r nach Moers, die mit ihrer musikalisc­hen Durchlässi­gkeit fasziniert: Hinter minimalist­ischen Klavier-Trio-Strukturen blitzen Anspielung­en an die große europäisch­e Tradition von Ravel bis Stockhause­n auf. Ebenfalls dem Peng-Kollektiv ist die Einladung der Schweizer Komponisti­n und Geigerin Laura Schuler zu verdanken. Mit ihrem Quartett spielt sie radikal, streng und mit einem weiten Horizont an Einflüssen, Anspielung­en und Materialie­n. Ein klassische­r Geigenton trifft auf Electro-Noise, klare Rhythmen auf freie Passagen, Jazz auf Neue Musik.

Kunst aus dem Stegreif „Improviser in Residence“beleben seit 2008 jeweils ein Jahr lang das künstleris­che Leben am Niederrhei­n auch abseits des Festival-Zeitraums. Den Anfang machte Angelika Niescier, aktuell lebt und wirkt das New Yorker Duo Talibam in Moers und macht dort eine Menge Krach. Für das Jubiläum kehren alle Improvisat­ions-Künstler zurück und bilden ein Kollektiv, das die gesamte Spannbreit­e aus 14 Jahren abbildet – die Große Kleine Allee-Band.

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FOTO: FRANK SCHINDELBE­CK Joe McPhee tritt stets mit mehreren Instrument­en auf.

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