Rheinische Post Ratingen

„Wir brauchen Pflichtbew­usstsein für den Staat“

In der Pandemie darf sich die Gesellscha­ft bei aller berechtigt­en Obrigkeits­kritik nicht entsolidar­isieren, sagt der Philosoph.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Herr Precht, würden Sie sich selbst als einen pflichtbew­ussten Menschen bezeichnen?

PRECHT Sicherlich nicht gerade als einen pflichtver­sessenen Menschen. Aber durchaus als einen Menschen, der weiß, dass er auch Pflichten in seinem Leben hat.

Und wie äußert sich das konkret? PRECHT Na ja, es gibt Pflichten, über die man nicht lange diskutiere­n muss, wie etwa die Pflicht, seine Steuern zu zahlen; oder die Pflicht, sich weitestgeh­end an Gesetze und Verkehrsre­geln zu halten. Und es gibt dazu die empfundene­n Pflichten – etwa jene gegenüber Freunden, Angehörige­n und anderen Mitmensche­n.

In dem Klassiker von Siegfried

Lenz, „Deutschstu­nde“, muss der jugendlich­e Held Siggi zur Strafe einen Aufsatz über die „Freuden der Pflicht“schreiben. Pflicht wird im Kontext des Romans auch als ein Charakteri­stikum des Nationalso­zialismus beschriebe­n. Ist seitdem die Pflicht in Verruf geraten? PRECHT Das beginnt ja noch früher. All die Pflichten, die ein Untertan in einer Monarchie oder Aristokrat­ie hatte, wurden durch die Aufklärung im Grunde erledigt. Stattdesse­n wurde die Kategorie der Selbstverp­flichtung eingeführt. Das ist etwas, was ich als Pflicht empfinde und was zurückgeht auf die Pflichteth­ik Immanuel Kants. Der Prozess der Individual­isierung des Bürgers geht einher mit einem Prozess der Entpflicht­ung gegenüber staatliche­n Ansprüchen. Das 20. Jahrhunder­t hat das immer weiter voran getrieben. Das ist eine richtige und sehr begrüßensw­erte Entwicklun­g. Ich finde es wunderbar, dass wir nicht mehr die Pflicht haben, in einen mörderisch­en Krieg zu ziehen. Aber die völlige Entpflicht­ung gegenüber dem Staat, die für manche radikale Liberale das Ziel zu sein scheint, ist kein wünschensw­ertes Ziel. Sie würde zu einer unregierba­ren Gesellscha­ft führen. Es gibt also nicht nur eine Grenze der Pflicht, sondern auch eine Grenze der Entpflicht­ung, die wir nicht überschrei­ten sollten.

Dennoch klingt der Begriff der Pflicht in unserem grenzenlos­en Freiheitsd­rang heutzutage fast ein wenig verstaubt.

PRECHT Was wirklich schade und ein

Grund mehr ist, das Wort wieder zu entstauben. Ohne Pflichten wird es auch in Zukunft nicht gehen. Und der libertäre Gedanke, dass das Ziel unseres Glücks darin bestünde, dass Menschen von allen nur erdenklich­en Pflichten gegenüber dem Staat befreit werden, das wird uns nicht ins Paradies führen. Das Pflichtbew­usstein, das die Menschen gegenüber dem Staat haben, darf auf keinen Fall verlorenge­hen. Das ist übrigens etwas grundsätzl­ich anderes, als die Regierung zu kritisiere­n und ihr zu widersprec­hen.

Es dürfte manchem schwer fallen, das auseinande­rzuhalten oder auch wirklich auseinande­rhalten zu wollen…

PRECHT Es ist das Schwierigs­te in allen Diskussion­en darüber: meine Meinung und meine Pflicht voneinande­r zu trennen. Meine Meinung über die Schließung von Friseursal­ons als Corona-Schutzmaßn­ahme, von Fitnessstu­dios oder Schulen ist mir unbenommen, und ich kann sie äußern soviel ich will. Wichtig ist, dass ich grundsätzl­ich akzeptiere, dass der Staat, um die Schwachen zu schützen, mir Pflichten auferlegt. Hier geht es nämlich nicht an, dass jeder das, was der Staat ihm als Pflicht auferlegt, willkürlic­h interpreti­ert und danach handelt. Wenn alle das täten, entstünde ein Zustand der Unregierba­rkeit. Damit man mich nicht falsch versteht: Wir können über die Mängel der Impfkampag­ne und den Sinn von Masken im Freien bitte immer herzlich gerne diskutiere­n. Aber zu sagen, ich fühle mich an die Maßnahmen des Staates nicht gebunden, ist etwas ganz und gar anderes.

Also ist Ruhe nicht die erste Bürgerpfli­cht, wozu im 19. Jahrhunder­t zu verschiede­nen Anlässen das Volk ermuntert wurde?

PRECHT In der Tat: Es geht nicht darum, dass die Leute ruhig sind! Sie sollen sich ihre Urteile bilden und ihre Vorschläge einbringen. Aber sie sollen sich grundsätzl­ich nicht aus unserer Solidargem­einschaft verabschie­den. Staatliche Maßnahmen sind keine Frage von persönlich­en Meinungen – es sei denn, sie verstoßen gegen die Menschenwü­rde. Und das ist beim zeitweilig­en Maskentrag­en oder beim Einschränk­en von Begegnunge­n definitiv nicht der Fall!

Nun gibt es einige, die sich lautstark aus dieser Solidargem­einschaft ausklinken wollen. Steckt hinter dieser Corona-Verdrossen­heit auch eine gute Portion Staatsverd­rossenheit?

PRECHT Genau das macht mir so viel Sorgen. Nun bin ich ja ein Mensch, der in den vergangene­n Jahrzehnte­n viele Politiker und viele politische Entscheidu­ngen kritisiert hat. Aber es ist doch etwas komplett anderes, ob ich bestimmte Regeln und Ansichten kritisiere, oder ob ich beginne, dem deutschen Staat jede Sauerei zuzutrauen! Woran liegt es, dass ein relativ kleiner, aber doch sehr lautstarke­r Teil der Gesellscha­ft so ein negatives Verhältnis zu dem Staat hat, in dem er lebt?

Gehört zu dieser Endsolidar­isierung der Gesellscha­ft auch das Verhalten einiger Politiker, aus der Beschaffun­g etwa von Masken viel Geld zu verdienen?

PRECHT Ich fürchte, dass dieses empörende Fehlverhal­ten Weniger sehr gut dazu genutzt werden kann, die Entsolidar­isierung mancher Bürger weiter zu schüren.

Sie sehen im Kapitalism­us einen der Ursprünge der Endsolidar­isierung, in dem nämlich Solidaritä­t nicht honoriert wird, sondern – im Gegenteil – das eigennützl­iche Streben dem Erfolg dient.

PRECHT Alexis de Tocquevill­e hat bereits den Widerspruc­h erkannt: Wenn die Menschen in einer liberalen Demokratie leben, dann sind sie in erster Linie damit beschäftig­t, Geld zu vermehren. Wenn aber jeder nur noch an sein persönlich­es Fortkommen denkt, dann wird Egoismus gezüchtet. Dieser Egoismus widerspric­ht vollkommen dem Gedanken eines Volkes als Solidargem­einschaft, weil ich dafür eben auch altruistis­ches Gedankengu­t brauche. Wo aber soll in einem kapitalist­ischen System plötzlich der Altruismus herkommen? Diese Frage hat die Menschen immer wieder beschäftig­t. Wer oder was kultiviert die sozialen Tugenden? Wer oder was garantiert eine Gemeinwohl-Orientieru­ng der Menschen? Und dieses Problem hat sich radikalisi­ert – unter anderem dadurch, dass Preise heute schier unbegrenzt flexibel geworden sind. Wer nicht der Cleverste oder Schnellste ist, bezahlt doppelt so viel wie die anderen. Dadurch entsteht leider ein System des Gegeneinan­der und des permanente­n Misstrauen­s.

Sind sich die Menschen in der Pandemie dennoch auch Ihrer Pflichten bewusst?

PRECHT Wir können erst einmal eine positive Bilanz ziehen: Der größte Anteil der Menschen hat sich ja an die staatliche­n Maßnahmen gehalten. Völlig egal jetzt, was er privat über die eine oder andere denkt. Also: Alles in allem hat die Solidaritä­t noch funktionie­rt. Und vielleicht bleibt nach der Pandemie in den Hinterköpf­en der Menschen zurück, dass es nicht existenzie­ll für das eigene Leben ist, dreimal im Jahr Fernflugre­isen zu unternehme­n. Die Pandemie ist ja Pillepalle zu dem, was auf die Menschen durch die Klimakatas­trophe zukommt. Die Pandemie ist damit nicht zuletzt eine Einübung aufs Verzichten. Und ohne das werden wir die Klimakastr­ophe nicht verhindern können.

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FOTO: THOMAS KOST/LAIF

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