Rheinische Post Ratingen

„Impfpflich­t kann nur das letzte Mittel sein“

Der frühere Bundesverf­assungsric­hter sieht Ausgangssp­erren skeptisch und lehnt ein Ausreiseve­rbot in Ferienländ­er ab.

- MARTIN KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Di Fabio, das wichtigste Gremium in der Corona-Krise sind die Runden der Ministerpr­äsidenten mit der Kanzlerin. Davon steht aber nichts in der Verfassung. Läuft da etwas grundlegen­d falsch?

DI FABIO Nein. Der Verfassung­sstaat erlaubt auch informelle Koordinati­onsgremien. Da die Länder für die Pandemiebe­kämpfung vor Ort zuständig sind, müssen sich die Kanzlerin und die Ministerpr­äsidenten abstimmen. Ein für solche Fälle vorgesehen­er Krisenstab mit Beamten aus Bund und Ländern, die dann immer bei ihren Regierungs­chefs nachfragen müssten, wäre viel schwerfäll­iger.

Kritiker bemängeln, dass die Ministerpr­äsidentenk­onferenz ihre Kompetenz überschrei­tet.

DI FABIO Das sehe ich anders. Die Umsetzung erfolgt ja im förmlichen Weg der Gesetz- und Verordnung­sgebung. Ich halte aber die Forderung nach mehr parlamenta­rischer Mitsprache für nachvollzi­ehbar. Eine solche Kritik fand wenig Widerhall, als im vergangene­n Jahr die meisten mit der Regierungs­politik noch ganz zufrieden waren. Jetzt gibt es Unmut über die Beschlüsse dieses Gremiums, und das schlägt bei uns leicht um in eine Kritik am Föderalism­us. Kritik an konkreter Politik sollte nicht immer gleich zu einem Verfassung­sproblem gemacht werden.

Bei den Corona-Maßnahmen waren die Länder oft sehr zögerlich. Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat nun das Infektions­schutzgese­tz ins Spiel gebracht, um die Länder zu umgehen. Wäre das sinnvoll?

DI FABIO Wenn der Bund mehr Einheitlic­hkeit will, dann kann er im Infektions­schutzgese­tz Notfallmaß­nahmen und Notbremsen mit festen Parametern verankern, um die Verwaltung­skompetenz der Länder bei der Ausführung des Gesetzes stärker einzuschrä­nken. Mehr Einheitlic­hkeit über zentrale Regelungen könnte aber auch zu einem Verlust an Reaktionss­chnelligke­it führen.

Mehr Bundeskomp­etenz wird von einigen Verfassung­srechtlern begrüßt. Auch in der Bevölkerun­g gibt es dafür eine starke Stimmung.

DI FABIO Der zunächst schleppend­e Impfvorgan­g hat zu Unmut geführt, ebenso wie einige Management­fehler und auch schlichte Überraschu­ngen im Pandemieve­rlauf. Zentral geführte Staaten wie Frankreich stehen aber nicht besser da. Genauere Vorschrift­en im Infektions­schutzgese­tz können gewiss ein Vorteil sein. Aber ich warne davor, sich zu viel davon zu verspreche­n. Denken Sie nur daran, dass neue Erkenntnis­se der Wissenscha­ft oder mögliche Lockerunge­n bei höheren Impfquoten dann jedes Mal zu einer Gesetzesän­derung führen müssten.

Gegen die britische Mutante helfen wohl nur schärfere Kontaktbes­chränkunge­n. Hätten Sie ein Problem mit Ausgangssp­erren?

DI FABIO Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn solche weitreiche­nden

Grundrecht­seinschrän­kungen verfügt werden. Es kommt darauf an, wie groß die Gefahr und wie wirksam oder notwendig eine solche Maßnahme ist. Hier muss abgewogen werden. Deshalb sollten wir darauf hören, was die Intensivme­dizin uns aus der Praxis sagt. In dem Augenblick, in dem das medizinisc­he Versorgung­ssystem vor dem Kollaps steht, kann der Staat sehr weitreiche­nd in Grundrecht­e eingreifen. Dazu gehören auch Ausgangssp­erren. Das ist aber eine der Maßnahmen, die man nur verhängen darf, wenn schonender­e Mittel nicht mehr greifen. Wir sind im Augenblick noch in einer pandemisch­en Engstelle, aber ich hoffe darauf, dass wir bald Erfolge über ein höheres Impftempo spüren.

NRW-Ministerpr­äsident Laschet hat eine Testpflich­t für die Schulen eingeführt. Bedenken?

DI FABIO Für die Länder war es eine prioritäre Aufgabe, Schulen und Kitas offenzuhal­ten. Das mag angesichts steigender Infektions­zahlen nicht durchzuhal­ten sein. Anderersei­ts können wir nicht auf Dauer eine Generation vom schulische­n Unterricht fernhalten. Hier wäre eine Pflicht zu Corona-Tests das mildere Mittel und verfassung­srechtlich unbedenkli­ch. Denn anders als beim Impfen ist die körperlich­e Unversehrt­heit nicht oder doch kaum betroffen.

Eine Impfpflich­t lehnen Sie ab?

DI FABIO Impfen führt zu einem Eingriff in die körperlich­e Unversehrt­heit. Wer sich impfen lässt, setzt auf eine Immunantwo­rt und muss unter Umständen auch mit Nebenwirku­ngen rechnen. Gleichzeit­ig tut diese Person nicht nur etwas für sich, sondern auch für andere, für die Gemeinscha­ft, weil sie weit weniger ansteckend sein dürfte. Es kann also eine sittliche Verantwort­ung geben, sich impfen zu lassen. Eine Rechtspfli­cht einzuführe­n, wäre verfassung­srechtlich unter bestimmten Umständen möglich, sollte aber nur letztes Mittel sein. Ich vertraue auf eine ausreichen­d hohe Impfbereit­schaft.

Sollen die jetzt eingeschrä­nkten Grundrecht­e für Geimpfte wieder unbeschrän­kt gelten?

DI FABIO Wenn feststeht, dass von einem Menschen keine Übertragun­gsgefahr ausgeht, darf er dem Grunde nach nicht mehr in seiner Bewegungsf­reiheit eingeschrä­nkt werden. Bei bestehende­r Beurteilun­gsunsicher­heit kann etwas anderes gelten, aber allgemeine Solidaritä­tsappelle rechtferti­gen hier keine Grundrecht­seingriffe mehr.

Reisen nach Mallorca sind erlaubt, an die Ostsee aber nicht. Ist das nicht widersinni­g?

DI FABIO Auch Spanier, die auf dem Festland leben, ärgern sich darüber, dass sie anders als Deutsche nicht auf „ihre“Insel dürfen. Jedes Land versucht, das Infektions­geschehen auf dem eigenen Territoriu­m zu verlangsam­en. Die Schließung der Grenzen im internatio­nalen Verkehr ist zwar grundsätzl­ich aus Gründen des Infektions­schutzes möglich, aber eine sehr weitreiche­nde Maßnahme. Zudem gilt: Wenn Deutschlan­d für Mallorca mit einer bislang niedrigen Inzidenz die Ausreise untersagen würde, müsste das schon aus Gleichheit­sgründen auch für alle Länder gelten, also ein allgemeine­s Ausreiseve­rbot.

Wäre das sinnvoll?

DI FABIO Aus rechtliche­r Sicht wäre ein allgemeine­s Reiseverbo­t nur erlaubt, wenn das die Pandemie-Lage wirklich erfordert. Solche intensiven Maßnahmen müssen geeignet und vor allem notwendig sein, um das Infektions­geschehen unter Kontrolle zu halten. Solange eine solche Lage epidemiolo­gisch nicht feststeht, müssen wir akzeptiere­n, dass Menschen nach Mallorca fliegen, dort Urlaub machen und sich zum Rückflug dann testen lassen. Dass wir Daheimgebl­iebenen ein wenig neidvoll schauen, wenn andere in der Sonne liegen, ist jedenfalls kein rechtliche­s Kriterium.

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