Die Verteidigung des Derek Chauvin
Im George-Floyd-Prozess kommen erste Experten zu Wort. Augenzeugen schildern die Tat emotional.
WASHINGTON Wer die Uniform des Minneapolis Police Department trägt, sitzt irgendwann bei Johnny Mercil im Unterricht. Der Ausbilder bringt Polizisten bei, in welchem Maße sie körperliche Gewalt anwenden dürfen, falls sich ein Festzunehmender gegen seine Festnahme wehrt. Er lehrt, was gestattet ist und was nicht. Er steckt den Spielraum ab. Er zeigt Grenzen auf.
Derek Chauvin, sagt der Leutnant, im Prozess gegen den entlassenen Beamten als Zeuge geladen, habe die Regeln missachtet, als er sein Knie in den Nacken des gefesselt auf dem Straßenasphalt liegenden George Floyd drückte. Erstens, stellt Mercil klar, sei körperliche Gewalt, wenn man sich ihrer denn bedienen müsse, auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken. Zweitens rate man Polizisten, sich möglichst nicht auf den Hals eines am Boden Liegenden zu knien, „die Halsregion überhaupt zu meiden“. Drittens gelte der Grundsatz, keine Gewalt mehr anzuwenden, wenn der Festgenommene keinen Widerstand mehr leiste.
Chauvin hat sein Knie rund neun Minuten lang in Floyds Nacken gepresst, selbst dann noch, als der 46 Jahre alte Afroamerikaner nicht mehr bei Bewusstsein war. Im Hennepin County Courthouse in Minneapolis, wo er sich wegen Mordes zweiten und dritten Grades sowie wegen Totschlags verantworten muss, beruft sich sein Anwalt auf die Regeln der örtlichen Polizeibehörde.
Sein Mandant, erklärt Eric Nelson ein ums andere Mal, habe nichts getan, was die Vorschriften verletzt hätte. Die Aufnahmen, die er einspielen lässt, stammen von den Bodycams der beiden Beamten, die neben Chauvin auf Floyds Körper knieten. Sie zeigten, so Nelson, dass der Polizist sein Schienbein gegen die Schulter des Festgenommenen drücke, nicht gegen dessen Hals. Dass er nichts Regelwidriges getan habe. Die kurzen Ausschnitte, hält die Anklage dagegen, dokumentierten nur einen kleinen Teil des Geschehens, nur ein paar kurze Momente, in denen Floyd bereits das Bewusstsein verloren hatte. Viel aussagekräftiger sei, was Passanten mit ihren Handys gefilmt hätten – Aufnahmen, die ohne Zweifel belegen, wie Chauvin Floyd mit dem Knie im Nacken die Luft abschnürte, dessen „I can’t breathe“kaltherzig ignorierend.
Wer über die Tat urteile, so das zweite zentrale Argument der Verteidigung, müsse auch das Umfeld bedenken. Den Menschenauflauf, der sich an jenem Abend, am 25. Mai 2020, vor dem Lebensmittelgeschäft Cup Foods im Süden von Minneapolis bildete. Die vor dem Laden Versammelten hätten sich der Patrouille gegenüber feindselig verhalten. Mit immer aggressiveren Zwischenrufen hätten sie Chauvin nur irritiert, ihn wohl auch davon abgehalten, Erste Hilfe zu leisten, als Floyd kein Lebenszeichen mehr von sich gab. In ruhigerer Umgebung, argumentiert der Verteidiger, hätte sein Mandant wahrscheinlich anders gehandelt. Was er suggeriert, ist eine Mitschuld jener Passanten, die Chauvin angesichts dessen, was sich vor ihren Augen abspielte, immer eindringlicher aufforderten, endlich abzulassen von dem wehrlosen Mann auf dem Asphalt.
Die hochemotionalen Aussagen dieser Zeugen hatten die erste Verhandlungswoche geprägt. Etwa der junge Kassierer des Cup Foods, damals gerade 19, der von Reuegefühlen sprach: Hätte er den gefälschten 20-Dollar-Schein, mit dem Floyd für Zigaretten bezahlte, nicht angenommen, wäre die Polizei nie alarmiert worden, hätte die Tragödie nie ihren Lauf genommen. Ein 61-Jähriger, der Floyd anfangs noch zurief, er solle sich nicht gegen die Festnahme wehren, denn gegen die Polizei könne man schlicht nicht gewinnen, brach im Zeugenstand in Tränen aus. Die Feuerwehrfrau sprach von Nächten, in denen sie keinen Schlaf finde: Sie hätte Floyd helfen müssen und konnte es nicht, auf dem Bürgersteig zur Hilflosigkeit verurteilt.
Die zweite Woche dagegen steht ganz im Zeichen von Experten, die – in formelhafter Amtssprache – zu bewerten haben, ob Chauvin die Regeln brach oder im Rahmen des Erlaubten handelte. Alle, die bisher zu Wort kamen, sprachen von unangemessener, exzessiver Gewalt. In Minneapolis, hatte Medaria Arradondo, Polizeichef der Stadt, am Montag betont, sei das, was Chauvin getan habe, tabu. „Weder ist es Teil unseres Trainings, noch ist es Teil unserer Ethik und unserer Werte.“