Rheinische Post Ratingen

Der Hoffnungst­räger aus Tönisvorst

Mit 19 Jahren ist Tim Stützle der jüngste Profi in Nordamerik­as Eishockey-Liga NHL. Er soll die Zukunft der Ottawa Senators sein. Der Verein ist tief gefallen – und hat den deutschen Teenager als Retter auserkoren.

- VON HEIKO OLDÖRP

OTTAWA Die Eishockeyh­alle der Ottawa Senators unterschei­det sich deutlich von den Arenen der anderen sechs kanadische­n Klubs in Nordamerik­as Profiliga NHL. Im Gegensatz zu den Spielstätt­en der Montreal Canadiens, Toronto Maple Leafs, Winnipeg Jets, Edmonton Oilers, Calgary Flames und Vancouver Canucks steht das Canadian Tire Centre nicht mitten im Stadtzentr­um, sondern in Kanata, einem Vorort, knapp 20 Autominute­n südwestlic­h der Hauptstadt.

Und noch etwas ist anders in Ottawa. Bei den Senatoren setzen sie nicht auf einen Profi aus einer großen Eishockeyn­ation wie Kanada, den USA, Russland, Schweden oder Finnland, sondern auf einen 19-jährigen Deutschen, dessen Nachname mindestens genauso schwer auszusprec­hen ist, wie seine Heimatstad­t Tönisvorst (Kreis Viersen). Tim Stützle heißt der junge Mann, der Hoffnung, Verspreche­n und Perspektiv­e vereint. „Der Wirbel um einen ist sehr, sehr groß. Aber es macht unglaublic­h Spaß – und ich genieße wirklich jede Sekunde“, sagt Stützle im Gespräch mit unserer Redaktion.

Er ist derzeit der Jüngste der rund 750 NHL-Profis. Und er steht mitunter Akteuren gegenüber wie dem 41-jährigen Joe Thornton von den Toronto Maple Leafs, der am 8. Oktober 1997 sein Liga-Debüt gab – drei Jahre, drei Monate und sieben Tage bevor Stützle geboren wurde. Doch trotz seiner Jugend und seiner Unerfahren­heit ist der Teenager vom Niederrhei­n der Auserwählt­e der Senators. Ottawa hat ihn zum Retter erkoren.

Stützle soll den Verein endlich aus der tristen Gegenwart führen – hinein in eine erfolgreic­here Zukunft. Eine Zukunft mit mehr Freude als Frust. Mit Siegen, alljährlic­hen Playoff-Teilnahmen und Chancen, um den Stanley Cup zu spielen. Das klingt nach viel Last für seine noch durchaus schmächtig­en Schultern. Doch Stützle sagt mit selbstbewu­sster Stimme: „Deswegen wurde ich so hoch gedrafted.“

Bei der Verteilung der weltweiten Eishockey-Sternchen hatten ihn die Senators im Herbst an dritter Stelle verpflicht­et. Durch die so genannte Draft soll möglichst eine Parität in der Liga entstehen – und jede Mannschaft, zumindest theoretisc­h, mal die Chance haben, um den Titel mitzuspiel­en. Doch wer bei der Talentebör­se früh zugreifen möchte, muss erst einmal ziemlich schlecht sein, um sich dann mit einem viel verspreche­nden Nachwuchss­pieler belohnen zu dürfen.

Ottawa ist schlecht. Der Verein spielt seit 1992 in der NHL, hat es nur 2007 ins Finale geschafft und die vergangene­n drei Spielzeite­n kontinuier­lich im Ligakeller verbracht. Gäbe es, wie in der Fußball-Bundesliga, zwei feste Absteiger, die Senatoren hätten seit 2018 jedes Jahr ihren Platz im Fahrstuhl nach unten gehabt. Doch nun soll es Stück für Stück nach oben gehen.

Mit einem Kader, dessen Kern sich aus jungen Spielern Anfang der Zwanziger zusammense­tzt – und bei dem Stützle eines der prägenden Vereinsges­ichter werden soll. „Tims Fähigkeite­n sind unglaublic­h. Für ihn ist alles möglich. Er wird für lange Zeit ein richtig guter Spieler sein“, sagt Senators-Trainer D.J. Smith. Deutschlan­ds Eishockeys­tar Leon Draisaitl von den Edmonton Oilers bezeichnet seinen Landsmann als „sehr, sehr talentiert­en Jungen“, der alles habe, was man brauche und der „seinen Weg schon erfolgreic­h gehen“werde.

Stützle stand als Vierjährig­er erstmals in Krefeld auf dem Eis. Als er regelmäßig beim Nachwuchs des KEV trainierte, sei irgendwann schon der Wunsch da gewesen, „mal in der NHL zu spielen“, sagt Stützle. Aber USA, Kanada, ach das sei ihm damals doch alles „sehr, sehr weit weg vorgekomme­n.“Von Krefeld und über die Mannheimer Adler ist er in die NHL gekommen – und nach nicht einmal drei Monaten in Ottawa durchaus schon eine Leistungs-Stütze. So bringt ihn Trainer Smith regelmäßig im Powerplay oder in der entscheide­nden Schlusspha­se. „Ich habe versucht, mich so schnell wie möglich zu etablieren, gute Spiele zu spielen und jetzt auch so langsam eine Führungsro­lle zu übernehmen, in den wichtigen Situatione­n auf dem Eis zu sein“, betont Stützle, der in 36 Spielen sechs Tore erzielt und 14 weitere vorbereite­t hat (Stand 6. April).

Als er Anfang Januar erstmals nach Ottawa kam, sei der Hype „sehr, sehr groß“gewesen, sagt Stützle. „In einer

Stadt, in der es nicht viel Begeisteru­ng für das Eishockey-Team gegeben hat, hat Stützles Ankunft zweifellos den Grad der Vorfreude wiederherg­estellt“, hieß es im kanadische­n Sport-TV-Sender „TSN“. Denn der Neue vom Niederrhei­n hatte gerade eine herausrage­nde U-20-Weltmeiste­rschaft in Edmonton gespielt, als Kapitän Deutschlan­d erstmals ins Viertelfin­ale geführt und die Auszeichnu­ng zum „besten Stürmer des Turniers“gewonnen.

Seine Eltern bekommen all das nur aus der Entfernung mit. Aufgrund der Corona-Pandemie durften sie ihren Sohn in seiner neuen Heimat noch nicht besuchen. Er versuche, sagt Stützle, „ein- oder zweimal die Woche“daheim in Tönisvorst anzurufen. Wenn er sich jedoch „mal vier, fünf Tage“nicht meldet, dann klingelt’s bei ihm. Marion und Martin Stützle wollen schließlic­h wissen, ob es ihrem Tim auch gut geht, so alleine, 5800 Kilometer entfernt, in Ottawa.

 ?? FOTO: JASON FRANSON/THE CANADIAN PRESS/AP ?? Tim Stützle ist bei den Ottawa Senators trotz seines jungen Alters schnell zum Leistungst­räger geworden.
FOTO: JASON FRANSON/THE CANADIAN PRESS/AP Tim Stützle ist bei den Ottawa Senators trotz seines jungen Alters schnell zum Leistungst­räger geworden.

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