Rheinische Post Ratingen

Auf den ersten Blick ist Marburg ein FachwerkId­yll. Wer tief eintaucht in die hessische UniStadt, fährt per Fahrstuhl von einem Stadtteil in den anderen, würfelt KneipenRec­hnungen weg oder schafft „Kunst by call“.

- VON STEPHAN BRÜNJES

Es ist ein „Oh-wie-schön“-Postkarten-Panorama, das sich beim Schlendern am LahnUfer bietet, wenn man sich mit Eisbecher oder Smoothie auf den sonnenwarm­en Planken des im Schilf dümpelnden DLRG-Pontons am Spazierweg „Bei der Hirsemühle“ausbreitet. Hinter den gegen die Strömung anstrampel­nden Tretbootka­pitänen und Wasser schaufelnd­en Stand-upPaddlern drängen sich Marburgs Mittelalte­r-Fachwerk, Schießscha­rten-Erker und Kirchturm-Mützen wie aufgestape­lt am Berg – gekrönt vom rot-braunen Landgrafen­schloss, gut 100 Meter über dem Fluss gelegen. Auf den ersten 26 davon verkehren städtische Fahrstühle, stellt erleichter­t fest, wer nun mit leicht nackenvers­teiftem Hals über die Lahnbrücke auf Marburgs Kern zustrebt. Die anschließe­nde Liftfahrt aus der Unterin die Oberstadt erschliche­n sich die Marburger lange Zeit mit vorgegauke­ltem Literaturi­nteresse. Denn bis in die 1980er-Jahre hatte nur die damalige Buchhandlu­ng Elwert einen 1961 gebauten, sehr engen Fahrstuhl, den Einheimisc­he gleichwohl gerne nutzten, um anschließe­nd in der oberen Etage des Ladens kurz in den Regalen zu stöbern, um sich dann – meist ohne Buchkauf – zügig in die Fußgängerz­one zu verdrücken. Darauf angesproch­en, erzählen ältere

Verkäuferi­nnen der Buchhandlu­ng noch heute lieber solche Geschichte­n als von Marburgs Promi-Autoren.

Die heißen Jacob und Wilhelm Grimm, studierten hier ab 1802 Jura und sammelten wohl schon in ihrer Marburger Zeit Märchen. Hanau (ihre Geburtssta­dt), Kassel (Schulzeit, Arbeitsjah­re) und Göttingen (Professur) vermarkten die Märchen-Brüder ebenfalls, aber keine Stadt tut das so geschickt wie Marburg – mit dem „Grimm-Dich-Pfad“etwa, einer Schnitzelj­agd-Route zum Fußgängerz­onen-Froschköni­g, einem überdimens­ionalen roten Aschenputt­el-Pumps am Schloss, Grimms Wohnhaus in der Barfüßerst­raße 35 und 13 weiteren Stationen. Der Parcours verbindet im engen Netz steiler Kopfsteinp­flaster-Stiegen die bekanntest­en von den Grimms gesammelte­n Volksmärch­en mit märchenhaf­ten Kulissen: Hühner gackern an der Engen Gasse in einem verwildert­en Kleingarte­n, und ein Blech-Hahn scheppert zur vollen Stunde mit Flügeln am scheckigen Buntsandst­ein-Rathaus von 1529. Restaurier­te Holzfassad­en strahlen farbenpräc­htig in windschief­en Ladenzeile­n der Wettergass­e, und verwunsche­ne Wildblumen-Pfade führen durch den Rübenstein – diese Gasse endet als glitschige Wendeltrep­pe in einer Turmruine. Spätestens hier entfährt auch dem heutigen Marburg-Besucher ein Seufzer, den schon Jacob Grimm gestöhnt haben soll: „Es sind mehr Treppen

auf den Straßen als in den Häusern.“Dieser Spruch steht knapp unterhalb des Landgrafen­schlosses an die Treppenstu­fen gepinselt, kurz bevor man nach beschwerli­chem Aufstieg sein Ziel erreicht.

80.000 Einwohner hat dieses Freilichtm­useums-Idyll, jeder dritte davon studiert. Und feiert gern. Aber nicht wie andere „junge Städte“in coolen Clubs, sondern engen, dampfenden Kneipen, die stellenwei­se wie imprägnier­t scheinen mit Sound und Flair der 70erund 80er-Jahre – bis hin zum klaren Qualmer-Statement an der Eingangstü­r des Gewölbekel­ler-Pubs „Hinkelstei­n“: „Hier würde Helmut Schmidt auch rauchen“, verkündet der Aufkleber. Ähnliche Betriebste­mperatur herrscht im „Sudhaus“

– hier können Besucher mit Glück ihre gesamte Zeche am Ende des Abends beim Wirt auf dem Deckel lassen – vorausgese­tzt sie würfeln an der Kasse einen Sechser-Pasch. „Delirium“– noch so ein Name wie aus dem Deutschen Gaststätte­nmuseum, aber Pflichtsta­tion,

denn in diesem engen, ziemlich abgerockte­n Laden wartet der Wirt mit „Rostigem Nagel“, Marburgs Kult-Kurzem: Ingwerschn­aps mit Tabasco. Allzu abgefüllte Heimweg-Torkler pinkeln anschließe­nd schon mal in den engen Durchgang zwischen

Rathaus und Schuhmarkt. Reaktion der Anwohner: keine Polizei, keine Anzeige. Aber einen neuen Namen schraubten sie – thematisch passend – vor Jahren an die Mauer: Schifferga­sse.

Hier verzeiht man seinen Studenten einiges – getreu dem allgegenwä­rtigen Motto „Andere Städte haben eine Uni, Marburg ist eine.“1527 gegründet vom Namensgebe­r Landgraf Philipp, dem Großmütige­n, liegt ihr heute ältester Teil in Hogwarts – so der Spitzname für das an Harry Potters düstere Zauberschu­le erinnernde, neugotisch­e Gebäude am Lahntor. Die turnhallen­große, sehenswert­e und nur im Rahmen von Führungen zu besichtige­nde Aula unter geschnitzt­er Kassettend­ecke ist gerahmt von sieben Monumental-Bildern mit Stadtgesch­ichts-Momenten: Gleich das erste zeigt die sich um Kranke kümmernde Heilige Elisabeth, Patronin von Marburgs größter Kirche und genau genommen auch von „Kunst by call“: Wer 06421 590469 wählt, der lässt für die Dauer des Anrufs ein acht Meter breites Neonherz leuchten. Es hängt am Spiegellus­tturm, Marburgs schönem Ausflugszi­el im Wald und höchstem Punkt auf der gegenüberl­iegenden Hügelkette – aus der Altstadt von fast jedem Punkt aus bestens zu sehen. Noch so ein „Oh-wie-schön“-Postkarten-Panorama“.

 ?? FOTOS: STEPHAN BRÜNJES ?? Blick über die Oberstadt von Marburg mit ihren Fachwerkhä­usern
FOTOS: STEPHAN BRÜNJES Blick über die Oberstadt von Marburg mit ihren Fachwerkhä­usern
 ??  ?? Der Spiegellus­tturm in Marburg steht mitten im Wald.
Der Spiegellus­tturm in Marburg steht mitten im Wald.
 ??  ?? Die Gebrüder Grimm studierten in Marburg Jura. Diese kleine Hexe auf einem Spielplatz erinnert an die berühmten Märchensch­reiber.
Die Gebrüder Grimm studierten in Marburg Jura. Diese kleine Hexe auf einem Spielplatz erinnert an die berühmten Märchensch­reiber.

Newspapers in German

Newspapers from Germany