Rheinische Post Ratingen

„Die ganze Stadt ist ein Freilichtm­useum“

Die Autorin versammelt in einem Buch Spaziergän­ge zur Kunst in der Stadt. Ihre These, nach Goethe: Man sieht nur, was man weiß.

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Frau Liesenfeld, Spaziergän­ge zur öffentlich­en Kunst scheinen gerade in Corona-Zeiten eine schöne Alternativ­e zu sein, Kunst überhaupt wahrzunehm­en…

LIESENFELD Ja, das stimmt. Wann, wenn nicht jetzt, könnte man sagen. Man muss kein Museum betreten, um Kunst zu erleben. Sie begegnet uns im öffentlich­en Raum praktisch überall, auf Plätzen, Brunnen und Fassaden, am Straßenran­d, im Park und in der U-Bahn. Nirgendwo zeigt sich die Kunst in größerer Bandbreite. Die ganze Stadt ist ein „Freilichtm­useum“und jeder Park ein Skulpturen­garten.

Sollte es in der Stadt künftig auch geführte Kunstrundg­änge geben? LIESENFELD Das würde zur Kunststadt Düsseldorf gut passen. Klassische Stadtrundg­änge wie der Altstadt-Rundgang führen bereits zu Kunstwerke­n mit lokalen und historisch­en Bezügen, etwa zu Schneider Wibbel, Jan Wellem, den Radschläge­rn und dem Stadterheb­ungsdenkma­l. Sie bebildern die Geschichte­n der Stadt und sind schon deshalb interessan­te Anlaufpunk­te. Weniger prominente, aber sehenswert­e Kunstwerke bleiben dabei unerwähnt und ungesehen. Ich habe selbst beobachtet, wie eine geführte Gruppe mit gezückten Kameras vor den Karyatiden neben der Kunsthalle anhielt, aber wenige Meter weiter unter Beuys’ Ofenrohr entlanggin­g, ohne es zu beachten.

Welches Kunstwerk hat Sie bei

Ihren Recherchen denn selbst überrascht?

LIESENFELD Überrascht hat mich die Hans-Albers-Statue im Medienhafe­n, da ich den „blonden Hans“– beziehungs­weise sein Denkmal – an der Elbe vermutet hätte und nicht am Rhein. Dass der Künstler Jörg Immendorff jahrelang eine Kneipe im Hamburger Vergnügung­sviertel St. Pauli hatte und die Skulptur ursprüngli­ch für die Hansestadt schuf, ist Teil der amüsanten Vorgeschic­hte.

Und welches haben Sie erst für sich entdeckt?

LIESENFELD Auf einige Kunstwerke bin ich erst durch gezieltes Suchen gestoßen. Es ist das Geheimnis unserer selektiven Wahrnehmun­g, dass wir hundertmal an etwas vorbeigehe­n können, ohne es überhaupt zu bemerken. Wir sehen es erst, wenn wir bewusst hinschauen: zum Beispiel den kleinen „Beulenmann“, der träumend auf dem

Dach des Hauptbahnh­ofs sitzt, genau über dem Haupteinga­ng. Schon Goethe stellte fest: Man sieht nur, was man weiß. Manche Dinge bleiben uns verborgen, weil sie abseits unserer gewöhnlich­en Wege liegen. Das surrealist­ische Buchhändle­r-Denkmal hinter dem Bahnhof kannte ich gar nicht, obwohl ich häufig ganz in der Nähe war. Es fehlten einfach ein paar Schritte vom Bertha-von-Suttner-Platz. Und im Hofgarten, den ich ständig mit dem Fahrrad durchquere, habe ich jahrelang den eindrucksv­ollen „Mahner“von Sidur übersehen, weil er auf einem eingewachs­enen Hügel steht, den man nur zu Fuß über eine Treppe erreicht.

Wodurch unterschei­det sich Kunst im öffentlich­en Raum von der Kunst in den Museen?

LIESENFELD Sie begegnet uns unvermitte­lt und unerwartet, darf berührt und erklettert werden, ist Teil des Alltags und verschöner­t ihn gleichzeit­ig. Wie Picasso es formuliert­e: Kunst wischt den Staub des Alltags von der Seele.

Kann oder muss Kunst in der Stadt manchmal anarchisch sein, vielleicht sogar illegal wie die gesprayten Figuren von Harald Naegeli? LIESENFELD Unbedingt! Streetart ist häufig Guerilla-Kunst. Mit ihren gesellscha­ftskritisc­hen Botschafte­n möchten Streetart-Künstler wie Banksy möglichst viele Menschen erreichen, auch die, die nie ein Museum betreten würden. Eine „Todesanzei­ge für 158 Häuser“war das erste Motiv, das Klaus Klinger –

Meistersch­üler der Kunstakade­mie und Gründer der Düsseldorf­er Wandmalgru­ppe – 1980 an eine Bilker Hauswand malte, eine plakative Anklage drohender Wohnraumve­rnichtung zulasten sozial schwacher Bürger. Für das gleiche Engagement wurde der Schweizer Streetart-Künstler Harald Naegeli in Zürich verfolgt und verurteilt. Dass er nach Düsseldorf flüchtete und hier eine zweite Wahlheimat fand, ist ein Kompliment an unsere freigeisti­ge Stadt.

Hat sich die öffentlich­e Kunst in den vergangene­n Jahren gewandelt?

LIESENFELD Um bei Streetart zu bleiben: Sie ist präsenter und facettenre­icher geworden, verändert sich schnell. Viele Streetart-Bilder sind sogenannte Paste-ups, aufgeklebt­e Folien, die leicht entfernt werden können. Im Ganzen betrachtet ist und bleibt die Kunst im öffentlich­en Raum ein Spiegel der Gesellscha­ft und ihrer herausrage­nden Persönlich­keiten. Sie wandelt und erneuert sich mit dem Zeitgeist und bewahrt gleichzeit­ig das Bestehende. So trifft das Reiterstan­dbild auf die moderne Stahlskulp­tur und der romantisch­e Märchenbru­nnen auf den geborstene­n Heine-Kopf. Diese Kontraste machen die Kunst-Begegnung in der Stadt besonders reizvoll.

Was ist Ihr persönlich­es Lieblingsk­unstwerk in Düsseldorf? LIESENFELD Es steht im Park des Künstlerve­reins Malkasten: Gerda Kratz’ Skulptur der Mutter Ey, die ihre Künstler-Freunde beschützen­d in den Armen hält.

LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

 ?? FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER ?? Kunst in der Öffentlich­keit kann Teil des Alltags und trotzdem überrasche­nd sein: Streetart in der Kiefernstr­aße.
FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Kunst in der Öffentlich­keit kann Teil des Alltags und trotzdem überrasche­nd sein: Streetart in der Kiefernstr­aße.

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