Corona ist ein Nährboden für Sucht
Fliedner-Klinik verzeichnet steigende Anfrage nach Therapieplätzen. Auch die Rückfallquote bei Patienten wächst.
RATINGEN „Isolation ist zur Eindämmung von Infektionen eine wirksame Maßnahme, psychologisch aber katastrophal“, stellt Maximilian Meessen, Chefarzt der Fliedner-Klinik nach rund einem Jahr Corona fest. Die Folge: Die Abteilung für Suchtmedizin ist ausgelastet, die Anfragen nach einer Therapie steigen. „Viele Patienten sagen, dass Corona auch eine Ursache für ihr Suchtverhalten ist“, so Meessen.
Die Gründe liegen auf der Hand: Durch Kurzarbeit und Homeoffice fallen gewohnte Strukturen weg, Existenzsorgen, Homeschooling und familiäre Konflikte sorgen für Stress. Freizeitaktivitäten wie Sport oder Kultur können keinen Ausgleich mehr schaffen. Nicht jeder steckt das problemlos weg. „Vereinzelung ist immer ein Problem“, so Meessen. „Corona verschärft die Situation zusätzlich.“
Wo früher noch Freunde oder Arbeitskollegen regulierend eingreifen konnten, ist heute Leere. „Auch das ambulante Suchthilfesystem ist weitgehend zusammengebrochen“, so Fabian Schach, Oberarzt im Bereich Suchtmedizin. Bedingt durch die Hygienemaßnahmen finden keine Selbsthilfegruppen mehr statt. „Auch in den Suchtberatungsstellen gibt es Einschränkungen durch die Kontaktbeschränkungen“, fügt Meessen hinzu.
Doch nicht allein Alkohol ist ein zunehmendes Problem. „Wir bemerken auch einen zunehmend pathologischen PC-Gebrauch“, so Schach. Das kann in einer regelrechten Recherchesucht oder Abhängigkeit von Spielen gipfeln.
Wie kann ein Betroffener feststellen, dass er auf dem Weg in die Abhängigkeit ist? Schach: „Kriterien einer Abhängigkeit sind Entzugserscheinungen, ein unwiderstehliches Verlangen oder der Suchtmitteleinsatz, um ein Ziel zu erreichen – zum Beispiel, um Schlaf zu finden.“„Wer bereits eine Suchtgeschichte hat, der stellt sehr schnell fest, dass etwas in Schieflage geraten ist“, so Olaf Lask, Leiter des Haus Siloah, einer der ältesten Suchtkliniken weltweit.
Die Gesamtsituation stellt auch für die Fliedner-Klinik eine Herausforderung
dar. „Nur dank umfangreicher Hygienekonzepte können wir die Versorgung in unserer Suchtambulanz aufrechterhalten“, so Meessen. So gibt es niederschwellige Beratungsangebote, die zum Teil auch telefonisch durchgeführt werden. In Gesprächen werden individuelle Therapieziele entwickelt. Ratsuchende werden an die geeignete Stelle weitervermittelt. Die Fliedner-Klinik bezieht dabei auch externe Hilfsangebote mit ein.
Auch im stationären Bereich hat sich einiges verändert: „Strenge Konzepte schaffen hier einen sicheren Raum“, erklärt Olaf Lask. „Therapiepläne wurde hinsichtlich der Gruppengrößen angepasst. Auch inhaltlich mussten wir die Therapien verändern. Interaktives Singen ist nicht mehr möglich, sportliche Aktivitäten wurden ins Freie verlagert.“Je nach Indikation kann eine Aufnahme sehr schnell erfolgen – meist innerhalb weniger Tage bis hin zu zwei Wochen. „Optimal wäre eine Belastungserprobung, zum Beispiel für die Wiedereingliederung in den häuslichen Alltag“, so Lask. „Dies kann aber derzeit nur deutlich reduziert stattfinden. Unser Augenmerk liegt darauf, Stabilität für die Rückkehr ins eigene Zuhause zu erzeugen.“
Natürlich ist nicht immer gleich der totale Absturz in die Sucht zu befürchten. Bei einer Therapie sind zum Beispiel die drei folgenden Fragen essenziell, die sich Betroffene auch im Alltag stellen können: Wo sind die Gefahrenmomente – wie
komme ich zum Beispiel am Regal im Supermarkt vorbei, ohne Alkohol zu kaufen? Wen rufe ich an, wenn ich schwach werde? Was muss ich verändern, um suchtfrei leben zu können? Außerdem hilfreich sei eine sinnvolle Freizeitgestaltung, zum Beispiel ein künstlerisches Hobby, das sich auch coronakonform ausüben lässt. Und: Feste Strukturen und ein verlässlicher Alltagsrhythmus können vor der Sucht bewahren.
Hilft das alles nicht, steht die Fliedner-Klinik mit Rat und Tat zur Seite. Olaf Lask ermutigt dazu, Hilfe zu suchen: „Eine Sucht ist nicht der Anfang vom Ende.“