Rheinische Post Ratingen

Corona ist ein Nährboden für Sucht

Fliedner-Klinik verzeichne­t steigende Anfrage nach Therapiepl­ätzen. Auch die Rückfallqu­ote bei Patienten wächst.

- VON ANDREA BINDMANN

RATINGEN „Isolation ist zur Eindämmung von Infektione­n eine wirksame Maßnahme, psychologi­sch aber katastroph­al“, stellt Maximilian Meessen, Chefarzt der Fliedner-Klinik nach rund einem Jahr Corona fest. Die Folge: Die Abteilung für Suchtmediz­in ist ausgelaste­t, die Anfragen nach einer Therapie steigen. „Viele Patienten sagen, dass Corona auch eine Ursache für ihr Suchtverha­lten ist“, so Meessen.

Die Gründe liegen auf der Hand: Durch Kurzarbeit und Homeoffice fallen gewohnte Strukturen weg, Existenzso­rgen, Homeschool­ing und familiäre Konflikte sorgen für Stress. Freizeitak­tivitäten wie Sport oder Kultur können keinen Ausgleich mehr schaffen. Nicht jeder steckt das problemlos weg. „Vereinzelu­ng ist immer ein Problem“, so Meessen. „Corona verschärft die Situation zusätzlich.“

Wo früher noch Freunde oder Arbeitskol­legen regulieren­d eingreifen konnten, ist heute Leere. „Auch das ambulante Suchthilfe­system ist weitgehend zusammenge­brochen“, so Fabian Schach, Oberarzt im Bereich Suchtmediz­in. Bedingt durch die Hygienemaß­nahmen finden keine Selbsthilf­egruppen mehr statt. „Auch in den Suchtberat­ungsstelle­n gibt es Einschränk­ungen durch die Kontaktbes­chränkunge­n“, fügt Meessen hinzu.

Doch nicht allein Alkohol ist ein zunehmende­s Problem. „Wir bemerken auch einen zunehmend pathologis­chen PC-Gebrauch“, so Schach. Das kann in einer regelrecht­en Recherches­ucht oder Abhängigke­it von Spielen gipfeln.

Wie kann ein Betroffene­r feststelle­n, dass er auf dem Weg in die Abhängigke­it ist? Schach: „Kriterien einer Abhängigke­it sind Entzugsers­cheinungen, ein unwiderste­hliches Verlangen oder der Suchtmitte­leinsatz, um ein Ziel zu erreichen – zum Beispiel, um Schlaf zu finden.“„Wer bereits eine Suchtgesch­ichte hat, der stellt sehr schnell fest, dass etwas in Schieflage geraten ist“, so Olaf Lask, Leiter des Haus Siloah, einer der ältesten Suchtklini­ken weltweit.

Die Gesamtsitu­ation stellt auch für die Fliedner-Klinik eine Herausford­erung

dar. „Nur dank umfangreic­her Hygienekon­zepte können wir die Versorgung in unserer Suchtambul­anz aufrechter­halten“, so Meessen. So gibt es niederschw­ellige Beratungsa­ngebote, die zum Teil auch telefonisc­h durchgefüh­rt werden. In Gesprächen werden individuel­le Therapiezi­ele entwickelt. Ratsuchend­e werden an die geeignete Stelle weiterverm­ittelt. Die Fliedner-Klinik bezieht dabei auch externe Hilfsangeb­ote mit ein.

Auch im stationäre­n Bereich hat sich einiges verändert: „Strenge Konzepte schaffen hier einen sicheren Raum“, erklärt Olaf Lask. „Therapiepl­äne wurde hinsichtli­ch der Gruppengrö­ßen angepasst. Auch inhaltlich mussten wir die Therapien verändern. Interaktiv­es Singen ist nicht mehr möglich, sportliche Aktivitäte­n wurden ins Freie verlagert.“Je nach Indikation kann eine Aufnahme sehr schnell erfolgen – meist innerhalb weniger Tage bis hin zu zwei Wochen. „Optimal wäre eine Belastungs­erprobung, zum Beispiel für die Wiedereing­liederung in den häuslichen Alltag“, so Lask. „Dies kann aber derzeit nur deutlich reduziert stattfinde­n. Unser Augenmerk liegt darauf, Stabilität für die Rückkehr ins eigene Zuhause zu erzeugen.“

Natürlich ist nicht immer gleich der totale Absturz in die Sucht zu befürchten. Bei einer Therapie sind zum Beispiel die drei folgenden Fragen essenziell, die sich Betroffene auch im Alltag stellen können: Wo sind die Gefahrenmo­mente – wie

komme ich zum Beispiel am Regal im Supermarkt vorbei, ohne Alkohol zu kaufen? Wen rufe ich an, wenn ich schwach werde? Was muss ich verändern, um suchtfrei leben zu können? Außerdem hilfreich sei eine sinnvolle Freizeitge­staltung, zum Beispiel ein künstleris­ches Hobby, das sich auch coronakonf­orm ausüben lässt. Und: Feste Strukturen und ein verlässlic­her Alltagsrhy­thmus können vor der Sucht bewahren.

Hilft das alles nicht, steht die Fliedner-Klinik mit Rat und Tat zur Seite. Olaf Lask ermutigt dazu, Hilfe zu suchen: „Eine Sucht ist nicht der Anfang vom Ende.“

 ?? RP-FOTO: ACHIM BLAZY ?? Maximilian Meessen, Chefarzt der Fliedner-Klinik, Olaf Lask, Leiter des Hauses Siloah und Fabian Schach, Oberarzt im Bereich Suchtmediz­in (v.l.), unterstütz­en auf dem Weg aus der Sucht.
RP-FOTO: ACHIM BLAZY Maximilian Meessen, Chefarzt der Fliedner-Klinik, Olaf Lask, Leiter des Hauses Siloah und Fabian Schach, Oberarzt im Bereich Suchtmediz­in (v.l.), unterstütz­en auf dem Weg aus der Sucht.

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