Rheinische Post Ratingen

Mein Ohrwurm und ich

Dinge, die uns hartnäckig im Kopf bleiben, müssen nicht unbedingt schlecht sein.

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Wenn ich einkaufen gehe, verlasse ich den Supermarkt nicht nur mit vollen Tüten, sondern nehme noch etwas mit, gratis sozusagen. Es steckt nicht etwa in meinen Tüten, sondern in meinen Ohren. Meistens merke ich es erst, wenn ich zu Hause bin und nichtsahne­nd die Einkäufe wegräume. Dann taucht es plötzlich auf und bleibt hartnäckig für ein paar Stunden – der Beschallun­gsanlage im Supermarkt sei Dank: Hallo, ich bin’s, dein Ohrwurm. Vor einigen Jahren wurde bekannt, dass das Kauen von Kaugummi helfen soll. Aber erst hinterher, also nachdem man ein Lied mit Ohrwurm-Charakter gehört hat. Und zwar eins von der Sorte, bei der man sowieso nicht freiwillig weghören will. Denn es sind ja Lieder, die den meisten Leuten gefallen und die sie gerne hören. Solche Ohrwürmer sind doch zum Behalten. Und manche sind kaum auszuhalte­n. Aber sie bleiben. Manche Ohrwürmer setzen sich richtig fest. Manchmal auch welche, die gar keinen Rhythmus haben, keine Noten oder Töne. Einfach nur Worte und Bilder. Gedanken, die sich nicht wegschiebe­n lassen. Sorgen, die sich nicht ablegen lassen. Die dich nachts nicht schlafen und morgens nicht konzentrie­ren lassen. Mancher Ohrwurm frisst sich langsam durch Körper und Seele. Der Streit. Der Liebeskumm­er. Die Trauer. In der Bibel wird von einem erzählt, der einen solchen Ohrwurm hat. Der große König Saul tobt innerlich und äußerlich. Nach vielen erfolglose­n Versuchen, ihm zu helfen, haben seine Diener nur noch einen Rat: Musik

muss her! Also lassen sie jemanden kommen. Der setzt sich in eine Ecke, streicht über die Saiten seiner Harfe, und deren Klang legt sich wie Balsam auf den König. Er beruhigt sich. Im evangelisc­hen Kirchenjah­r heißt der morgige Sonntag übrigens Kantate – singt! Ich wünsche mir eine Kirche, die sich zu den Menschen in die Ecke setzt und leise Musik macht. Ich wünsche mir eine Gesellscha­ft von Menschen, die mit Worten, Musik und Gesang Ohrwürmer verbreiten, die helfen und heilen.

Pfarrerin Friederike Lambrich ist Leiterin der Evangelisc­hen Kirchengem­einde Lövenich in Erkelenz. Sie wechselt sich mit der Benediktin­erin Philippa Rath, Rabbi Jehoschua Ahrens und dem Islamwisse­nschaftler Mouhanad Khorchide wöchentlic­h ab.

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