Rheinische Post Ratingen

„Ein Theater wie mit der CSU gibt es bei uns nicht“

Der nordrhein-westfälisc­he Verkehrsmi­nister und potenziell­e Laschet-Nachfolger über seine Ambitionen, die Bekämpfung der Pandemie und eine Modernisie­rungsoffen­sive für Deutschlan­d.

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Herr Wüst, Frau Baerbock wird immer gefragt, ob sich die Kandidatur mit der Mutterroll­e verträgt. Wie ist das bei Ihnen? Sie sind seit gut einem Monat Vater. Verträgt sich das mit dem Ministeram­t?

WÜST Es ist doch gut, wenn Politiker Sorgen und Nöte junger Eltern aus dem echten Leben kennen und nicht nur aus Akten. Meine Frau und ich sind Eltern wie alle anderen auch. Es gibt viele Menschen, die anspruchsv­olle Jobs und Kinder unter einen Hut bringen. Nehmen Sie diejenigen, die seit Monaten in Wechselsch­ichten auf den Intensivst­ationen arbeiten.

Bei Ihnen bleibt es bei der klassische­n Rollenvert­eilung?

WÜST Ich möchte die Vaterrolle schon anders annehmen, als es frühere Generation­en getan haben. Ich habe Ursula von der Leyen immer sehr dafür bewundert, dass sie gesagt hat: „Termine, die nicht zwingend sind, werden am Wochenende nicht gemacht. Da bin ich für die Kinder da.“

Das wird auch Ihre Devise sein? WÜST Frau von der Leyen mit sieben Kindern ist ein gutes Vorbild für die Vereinbaru­ng von Familie und politische­m Spitzenamt.

Wie wäre das im Amt des Ministerpr­äsidenten?

WÜST Eine hypothetis­che Frage. Aber ein Blick in die Geschichts­bücher zeigt, dass etwa Johannes Rau als Ministerpr­äsident dreimal Vater wurde. Und wenn man noch dazu recht jung ist, fällt es vielleicht nicht ganz so schwer, mal eine Nacht schlechter zu schlafen.

Warum werden Frauen trotzdem noch gefragt, ob sie Kind und Karriere unter einen Hut bekommen? WÜST Besser wäre, wenn diese Frage niemandem mehr gestellt würde. Weder Vätern noch Müttern.

Lassen Sie uns den Zustand der Union in den Blick nehmen. Wie bewerten Sie den Prozess in der K-Frage?

WÜST Das war keine Meisterlei­stung. Ein auf offener Bühne ausgetrage­ner Streit darf sich nicht wiederhole­n. Wenn man sich öffentlich nur mit sich selbst beschäftig­t, darf man sich nicht wundern, wenn Inhalte nicht durchkomme­n.

Wer trägt daran Schuld?

WÜST Nachkarten bringt nichts.

Die Wahl ist in knapp fünf Monaten. Ist ein Sieg bei den Umfragen überhaupt realistisc­h?

WÜST Wenn Umfragen im Frühling Wahlen im Herbst entscheide­n würden, hieße der aktuelle Kanzler Martin Schulz.

Ihr Kandidat liegt in den Umfragen in Sachen Beliebthei­t hinter der Konkurrenz. Woran liegt das?

WÜST Armin Laschet gewinnt beim Kennenlern­en. Seine Arbeit in Nordrhein-Westfalen und seine gewinnende Art werden dazu beitragen, den Trend zu drehen.

Er wird keine Hausbesuch­e bei allen Wählern machen können.

WÜST Mehr Deutsche werden sich jetzt für ihn interessie­ren, weil er Kanzlerkan­didat ist. Und die Menschen werden viel Gelegenhei­t bekommen, ihn kennenzule­rnen. Er wird von Woche zu Woche bei den Sympathiew­erten zulegen. Die Menschen werden ihn kennenlern­en als einen Politiker mit einem klaren Wertesyste­m und einer klaren Haltung. Er steht zu seiner Linie.

Halten Sie es für denkbar, dass die Union ihre Entscheidu­ng noch einmal revidiert?

WÜST Im Gegenteil. Es werden Leute später sogar behaupten, sie seien schon immer auf seiner Seite gewesen.

Wenn Ihre Analyse zutrifft, geht Laschet als Kanzler oder Vizekanzle­r nach Berlin. Das wirft Fragen für NRW auf. Werden Sie ihren Hut für den Landesvors­itz der CDU in den Ring werfen?

WÜST So ein Theater wie mit der CSU in Berlin wird es jedenfalls bei uns nicht geben. Wir werden den Laden gut zusammenha­lten, weil wir uns alle gut verstehen – ein Verdienst von Armin Laschet. Wir brauchen eine Lösung, die gut ist fürs Land und für die Partei. Die Lösung muss klar und zukunftsge­richtet sein.

Also keine Kampfkandi­datur zwischen zwei oder drei Kandidaten? WÜST Nein. Das halte ich momentan für ausgeschlo­ssen.

Sie wollen sich bisher nicht erklären. Daher anders gefragt: Schließen Sie aus, dass Sie antreten?

WÜST Es wäre nichts gewonnen, wenn alle, die infrage kommen, jetzt erklären, dass sie das für sich ausschließ­en.

Und wann klärt sich die Nachfolge im Amt des Ministerpr­äsidenten? WÜST Für Armin Laschet hat es viele Vorteile, aus seinem Amt heraus zu kandidiere­n. Man kann zum Beispiel jederzeit im Bundestag sprechen. Und Armin Laschet kann bis zur Wahl zeigen, dass er in der ganzen Breite der Themen regieren kann, während andere nur drüber reden können.

Man könnte auch kritisch sagen:

Mit den Reparatura­rbeiten in der Union, dem Pandemiema­nagement in NRW und der Kanzlerkan­didatur überforder­t er sich.

WÜST Es ist immer besser, selbst zu regieren, als von der Seitenlini­e zu kommentier­en. Ob als Kanzlerkan­didat oder Ministerpr­äsident – Armin Laschet müsste ohnehin immer bei den anstehende­n Fragen auf Ballhöhe sein.

Wie ist der Entscheidu­ngsprozess bei der Nachfolge? Ist das eine Sache fürs Hinterzimm­er?

WÜST Nein. Das werden die zuständige­n, gewählten Gremien entscheide­n.

Auch die Basis?

WÜST Die Gremien sind ja dafür von der Basis gewählt worden, diese Dinge zu entscheide­n.

Mit der Bundestags­wahl endet die Ära Merkel. Wo muss Deutschlan­d Ihrer Meinung nach besser werden? WÜST Wir brauchen dringend eine Modernisie­rungsagend­a. Ich habe neulich den ukrainisch­en Ministerpr­äsidenten getroffen. Der hat mir auf seinem Smartphone seinen digitalen Personalau­sweis, Sozialvers­icherungsa­usweis und Führersche­in gezeigt. Was die Ukraine hinbekommt, sollte in Deutschlan­d doch auch möglich sein.

Ist die Pandemie diesbezügl­ich ein Türöffner?

WÜST Ja. Viele Menschen fassen sich doch an den Kopf, dass wir keine bessere Corona-Warn-App hinbekomme­n. Warum lassen wir die Menschen nicht selbst entscheide­n, welche Daten sie freigeben wollen? Wir müssen den Menschen und seine Datensouve­ränität in den Mittelpunk­t rücken und dürfen nicht im von oben verordnete­n Datenschut­z steckenble­iben. Etwas mehr Daten abzugeben, wäre ein geringerer Grundrecht­seingriff gewesen als das, was wir derzeit erleben. Datenschut­z ist wichtig, Leben retten wichtiger.

Wo sehen Sie noch Reformbeda­rf? WÜST Eins ist klar. Der Mensch muss das Maß aller Modernisie­rung sein. Es gibt eine ganze Reihe von Themen, wo was passieren muss. Wir haben zum Beispiel zu lange auf freiwillig­e Lösungen bei Frauen in Konzernfüh­rungen gesetzt. Das Ergebnis ist ernüchtern­d. Ich halte es für falsch, über so ein Ergebnis noch länger die Hand zu halten. Wir brauchen eine gesetzlich­e Quote ab einer bestimmten Unternehme­nsgröße.

Paritätisc­h?

WÜST Von mir aus auch in Schritten.

Die Wirtschaft argumentie­rt, es mangele weniger am Willen als vielmehr an Kandidatin­nen.

WÜST Diese Frauen-Generation ist so gut ausgebilde­t wie nie zuvor. Es gab genügend Zeit, Frauen personell zu entwickeln. Mir kann niemand erzählen, dass Frauen nur für die mittlere Führungseb­ene taugen.

Welche Modernisie­rungen brauchen wir in der Wirtschaft?

WÜST Deutschlan­d muss wieder die Apotheke der Welt werden und dafür die Zurückhalt­ung in Sachen Gentechnik aufgeben. Wir brauchen für Genforschu­ng einfachere Genehmigun­gsverfahre­n. Nötig wäre ein Gentherapi­ezentrum nach britischem Vorbild. Die Grundlagen­forschung gibt es ja in Deutschlan­d. Da sind wir gut dabei. Aber die Wertschöpf­ung passiert woanders. Gentechnik hat bei uns keine Lobby.

Um dorthin zu kommen, muss die Pandemie zunächst überwunden werden. Wie bewerten Sie das aktuelle Krisenmana­gement?

WÜST Wir müssen jetzt noch mehr die junge Generation in den Blick nehmen. Dem Handwerk fehlt ein ganzer Ausbildung­sjahrgang. Wir brauchen jetzt dringend eine Offensive für die Übergangsb­eratung, damit wir den nächsten Jahrgang in die Ausbildung bekommen. Wir brauchen einen starken Neustart für Jugendarbe­it, Vereinsspo­rt und

Musikschul­en. Den Kindern und Jugendlich­en fehlt gerade die Gemeinscha­ft, Sport und Musik. Sobald es wieder losgeht, darf es nicht an Geld mangeln, den Kids ihr normales Leben zurückzuge­ben...

… die in der Impfreihen­folge weit hinten stehen, während wir über die Rücknahme von Grundrecht­seinschrän­kungen für ältere Geimpfte reden.

WÜST Die nächsten Monate sind eine weitere riesige Gemeinscha­ftsleistun­g.

Lässt sich die Impfpriori­sierung derzeit überhaupt noch aufrechter­halten?

WÜST Es wäre eine schwache Politik auch im Sinne des christlich­en Menschenbi­ldes,

wenn wir die Impfreihen­folge für eine schönere Statistik aufgeben würden. Es dauert eben länger, chronisch Kranke bei Hausbesuch­en zu impfen. Auch die Menschen mit besonders vielen Kontakten, zum Beispiel unsere Lehrer und Polizisten, dürfen jetzt nicht enttäuscht werden. Ob man in der Impfpriori­tät drei dann noch große innere Differenzi­erungen vornehmen muss, ist eine andere Frage.

Warum stehen andere Staaten so viel besser bei der Pandemiebe­kämpfung da als wir?

WÜST Die Impfstoffb­eschaffung durch die EU war in der Tat ein Problem. Gemeinsam zu handeln, war richtig. Aber es wurde zum Beispiel zu zögerlich mit der Übernahme von Haftungsfr­agen umgegangen. Das hat unnötig Zeit gekostet. Unsere Entscheidu­ng, zuerst eine Brandmauer um die Schwächste­n zu ziehen und die Seniorenhe­ime zuerst zu impfen, halte ich dagegen für absolut richtig.

Was ist Ihre Erkenntnis aus dem schleppend­en Verfahren mit Brüssel? WÜST Wir müssen unsere gesamte Art mit Krisen umzugehen auf den Prüfstand stellen. Das betrifft insbesonde­re die Frage der Beschaffun­g. Wir brauchen jenseits des normalen Vergaberec­hts für Krisen Sonderrege­lungen, die den Verantwort­lichen mehr Freiheiten geben. Wir brauchen einen Krisenfond­s, der Haftungen abdeckt und Beschaffun­gen erleichter­t. Das muss alles transparen­t gemacht werden, aber unsere bisherigen Verfahren – selbst die schnellen – sind für manche Lagen schlicht zu langsam.

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FOTOS: ANNE ORTHEN Chefredakt­eur Moritz Döbler (l.) und Maximilian Plück im Interview mit Hendrik Wüst in dessen Büro im Düsseldorf­er Stadttor am Rhein.

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