Wissenschaft ohne Gewissheit
Entscheidungen brauchen Fakten. Dennoch muss über Meinungen geredet werden.
Gegen meine letzte Kolumne wandte ein Leser ein, heute könne man nicht mehr zwischen Tatsachenfragen, die nur die Wissenschaft beantworten kann, und politischen Meinungen unterscheiden. Die Wissenschaft vermittle uns nicht mehr die eine Wahrheit, die uns die gewünschte Sicherheit gibt. In der Tat wurde die Wissenschaft in der Corona-Krise auch instrumentalisiert, um politischen Maßnahmen Autorität zu verleihen. Ein gewisses Misstrauen ist angebracht. Auf die Wissenschaft können wir deswegen nicht verzichten. Vernünftige Entscheidungen kann nur treffen, wer sich auf Tatsachen stützt, soweit sie eben bekannt sind – etwa in Gestalt von Statistiken über die Wirkungen von Corona, die möglichen Nebenwirkungen von Impfungen,
auf nicht nur subjektives Wissen über ökonomische und psychosoziale Folgen von Lockdowns. Und man sollte sich von einem illusionären Bild der Wissenschaft aus dem 17. Jahrhundert verabschieden: Der Idee, dass Wissenschaft eigentlich Gewissheit und Endgültigkeit bedeutet. Der gewöhnliche Sturkopf kann für seine Meinung Gewissheit beanspruchen und sich weigern, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, die dagegensprechen. Er kann sich dabei sogar auf die Meinungsfreiheit berufen. Eine Wissenschaftlerin kann das nicht.
Was sie gegenwärtig zu den Gefahren von Covid und denen von Impfungen sagen kann, stützt sich auf die Forschung von Tausenden von Wissenschaftlern, die ihre Befunde untereinander abgleichen und vorschnellen
Verallgemeinerungen und Empfehlungen widersprechen. Das vermittelt nicht den Eindruck von Einigkeit, aber es ist nun einmal die sicherste Stütze, die wir jeweils haben. Welche politischen Maßnahmen ergriffen werden sollten, ist damit noch nicht entschieden.
Man sollte sich immer fragen, welchen Preis wir für welche Risikovermeidung zahlen wollen und welche Opfer man welchen Gruppen zumuten darf. Diese Fragen, zu denen auch Laien sich eine begründete Meinung bilden können, werden leider weniger diskutiert als die Inzidenz.
Maria-Sibylla Lotter ist Philosophie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.