Rheinische Post Ratingen

NRW will 1000 Afghaninne­n aufnehmen

Zusätzlich zu 800 Ortskräfte­n will das Land Aktivistin­nen, Journalist­innen und deren Familien Zuflucht bieten. Armin Laschet spricht von einem Akt der Humanität. Die Aufarbeitu­ng der vergangene­n Tage nimmt Fahrt auf.

- VON KIRSTEN BIALDIGA, JAN DREBES, DOROTHEE KRINGS, MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF Zusätzlich zu den 800 Plätzen für Ortskräfte aus Afghanista­n hat Nordrhein-Westfalen weitere 1000 Plätze für Frauen aus Afghanista­n zur Verfügung gestellt. Damit wolle man schnellstm­öglich besonders bedrohten Bürgerrech­tlerinnen, Menschenre­chtsaktivi­stinnen, Künstlerin­nen, Journalist­innen und anderen mit ihren Familien in Deutschlan­d eine sichere Unterkunft bieten, hieß es. Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) sagte unserer Redaktion, die Lage erfordere schnelles humanitäre­s Handeln.

Der stellvertr­etende FDP-Vorsitzend­e Johannes Vogel sagte, das Angebot der Länder zur Aufnahme von afghanisch­en Ortskräfte­n und etwa Frauenakti­vistinnen sei notwendig, die Bundesregi­erung müsse aber zuvor den ersten Schritt machen. „Ich bin fassungslo­s, dass das Leben und das Schicksal der Menschen, die sich für unsere Bundeswehr und Entwicklun­gszusammen­arbeit

eingesetzt haben, nun vom Willen der Taliban abhängt, weil versäumt wurde, den Abzug rechtzeiti­g zu planen. Das ist eine Schande für die deutsche Außenpolit­ik.“Es müsse alles versucht werden, so viele Menschen wie möglich aus dem Land herauszuho­len. Nach Angaben aus Militärkre­isen hat die Bundeswehr bis Mittwochab­end 673 Menschen ausgefloge­n. Die Militärmas­chinen vom Typ A400M pendeln nun zwischen Kabul und der usbekische­n Hauptstadt Taschkent.

Die Landesinne­nminister forderten ein zentrales Aufnahmepr­ogramm für die Fliehenden. Baden-Württember­gs Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU), Vorsitzend­er der Innenminis­terkonfere­nz, sagte dazu: „Aufgrund der sicherheit­s- und außenpolit­ischen Verantwort­ung des Bundes sehen wir hier den Bund in der Pflicht.“Er habe die Möglichkei­ten, die es in dieser Lage brauche, etwa um vor Ort in Afghanista­n den Personenkr­eis zu identifizi­eren, um den es gehe. Mehrere Unionspoli­tiker, darunter Strobl und Kanzlerkan­didat

Laschet sowie CDU-Vizechefin Julia Klöckner, hatten gesagt, Fehler aus dem Jahr der Flüchtling­skrise, also 2015, dürften sich nicht wiederhole­n. Mit Blick auf einen möglichen Anstieg der Zahlen von Geflüchtet­en aus Afghanista­n in Deutschlan­d sagte NRW-Flüchtling­sminister Joachim Stamp (FDP) nun: „Was Fluchtbewe­gungen aus der Bevölkerun­g Afghanista­ns

angeht, erwarte ich derzeit keine Entwicklun­g wie 2015/2016.“Vogel verwies darauf, dass Experten die Situation in Syrien und Afghanista­n nicht für vergleichb­ar hielten: „Es wird aber in der Region große Fluchtbewe­gungen geben, und deswegen ist es richtig, dass wir die zuständige Institutio­n, also die UN-Organisati­onen wie das UNHCR, jetzt stärken und nicht wieder alleinlass­en.“

Das Bundesinne­nministeri­um distanzier­te sich unterdesse­n von der Schätzung, dass wegen der Machtübern­ahme der Taliban mit bis zu fünf Millionen afghanisch­en Flüchtling­en zu rechnen sein könnte. „Das ist nicht die Einschätzu­ng des BMI“, sagte ein Ministeriu­mssprecher am Mittwoch in Berlin. Nach Informatio­nen der Deutschen Presse-Agentur hatte Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) bei einer Unterricht­ung der Bundestags-Fraktionsc­hefs am Montag selbst gesagt, dass 300.000 bis fünf Millionen Afghanen die Flucht ergreifen könnten – ohne dass klar wurde, woher diese Zahlen stammen und was das Ziel dieser Menschen ist.

FDP-Vize Vogel verlangte, man müsse untersuche­n, was bei den Nachrichte­ndiensten nicht funktionie­rt habe. An Warnungen habe es nicht gemangelt. Zugleich attackiert­e er Außenminis­ter Heiko Maas (SPD), der noch Anfang Juni gesagt hatte, das Szenario einer schnellen Übernahme des Landes durch die Taliban sei nicht das seine: „Eine katastroph­ale Fehleinsch­ätzung, diese Möglichkei­t nicht zumindest auch einzukalku­lieren“, so Vogel und forderte von Maas eine Klarstellu­ng seiner widersprüc­hlichen Aussagen zur Räumung der Botschaft. „Bezogen auf die Gefahr für das Botschafts­personal steht inzwischen Aussage gegen Aussage. Wie Heiko Maas derzeit in den Spiegel schauen kann, weiß nur er selbst.“

In Afghanista­n selbst führten die Taliban unterdesse­n erste Gespräche mit den politische­n Kräften des Landes. Der geflohene Präsident Aschraf Ghani wurde von den Vereinigte­n Arabischen Emiraten aufgenomme­n.

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