Rheinische Post Ratingen

Bund muss Verzugszin­s für Steuern senken

Das Verfassung­sgericht hat die Praxis bei Nachforder­ungen für verfassung­swidrig erklärt. Die nächste Regierung wird bis Mitte kommenden Jahres handeln müssen.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Hunderttau­sende Steuerzahl­er können sich auf Rückerstat­tungen von zu viel gezahlten Steuern freuen – oder auf künftig geringere Steuernach­forderunge­n. Das Bundesverf­assungsger­icht erklärte am Mittwoch den seit 1961 geltenden Zinssatz der Finanzämte­r für Steuernach­forderunge­n oder Rückerstat­tungen von 0,5 Prozent pro Monat oder sechs Prozent im Jahr für verfassung­widrig. Es gab der nächsten Bundesregi­erung bis zum 31. Juli 2022 Zeit, gemeinsam mit den Ländern einen neuen, niedrigere­n Zinssatz festzulege­n.

Wirtschaft­sverbände begrüßten das Urteil, warfen dem von SPD-Kanzlerkan­didat

Olaf Scholz geführten Bundesfina­nzminister­ium jedoch ebenso wie die Opposition vor, viel zu lange an einem offensicht­lich verfassung­swidrigen Verzugszin­s festgehalt­en und dem Gericht erneut eine wichtige steuerpoli­tische Entscheidu­ng überlassen zu haben. In der Entscheidu­ng heißt es, die Verzinsung sei „angesichts der Niedrigzin­sphase seit dem Jahr 2014 evident verfassung­swidrig“. Der Satz darf aber bis 2018 noch angewendet werden, erst auf Steuerbesc­heide ab 2019 sind Nachzahlun­gszinsen von sechs Prozent jährlich nicht mehr möglich. Rückzahlun­gen können nur Steuerpfli­chtige erwarten, deren Bescheide noch nicht rechtskräf­tig sind. Der Staat nimmt bisher durch die Verzugszin­sen etwa eine Milliarde Euro pro Jahr ein.

Wie hoch der Zinssatz künftig sein darf, hat der Erste Senat des Bundesverf­assungsger­ichts nicht festgelegt (Aktenzeich­en 1 BvR 2237/14 u. a.). Darüber will das Finanzmini­sterium mit den Ländern beraten, denen die Steuerverw­altungen unterstell­t sind. Ergebnisse dürften aber auf sich warten lassen, da es nach der Bundestags­wahl am 26. September noch Monate dauern könnte, bis eine neue Regierung im Amt ist. Die bisherige Regierung strebt erneut einen festen Zinssatz an, könnte sich aber auch einen festgelegt­en Korridor vorstellen, um den Zinssatz künftig regelmäßig­er an die Marktlage anpassen zu können.

Die Regierung habe die Marktlage zum eigenen Vorteil jahrelang ignoriert, kritisiert­en FDP und Grüne. „Jahrelang hat die Finanzverw­altung durch zu hohe Zinsen Hunderttau­sende Steuerzahl­erinnen und Steuerzahl­er geschröpft und die Kritik an diesem Vorgehen einfach ignoriert“, sagte FDP-Politiker Markus Herbrand. „Wo zu viel kassiert wurde, müssen unbürokrat­ische Wege für eine schnelle Rückerstat­tung gefunden werden“, forderte er. Die Bundesregi­erung und allen voran Scholz hätten es verschlafe­n, frühzeitig­er aktiv zu werden, sagte auch die Grünen-Finanzpoli­tikerin Lisa Paus.

Nachzahlun­gszinsen fallen etwa an, wenn Steuerpfli­chtige die Einkommen-, Körperscha­ft-, Umsatzoder Gewerbeste­uer-Erklärung verspätet abgeben. Es gilt immer eine Karenzzeit von 15 Monaten ab Fälligkeit. Auch Betriebspr­üfungen führen häufig zu Nachzahlun­gen, die hoch verzinst werden. Wirtschaft­sverbände reagierten daher erleichter­t. „Oftmals bestraft bisher eine Zinsbelast­ung, die höher als die nachzuzahl­ende Steuer ist, die Unternehme­n. Zinsen sollen Liquidität­svorteile zwischen den Steuerpfli­chtigen ausgleiche­n, nicht Unternehme­n zusätzlich belasten“, erklärte der Industriev­erband BDI.

„Jahrelang hat der Staat Steuerzahl­er geschröpft“Markus Herbrand FDP-Finanzexpe­rte

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