Rheinische Post Ratingen

Als der Majdanek-Prozess endete

Es war eine Anklage von ungeheurem Ausmaß: Beteiligun­g am 250.000-fachen Mord im Konzentrat­ionslager Majdanek. 1981 fielen die umstritten­en Urteile im Düsseldorf­er Landgerich­t. Ein Staatsanwa­lt und ein Verteidige­r erinnern sich.

- VON VERENA KENSBOCK

DÜSSELDORF Als er Majdanek besuchte, war der Himmel strahlend blau, und ein Hubschraub­er kreiste über dem ehemaligen Konzentrat­ionslager, erinnert sich Dieter Hanschel. Er war beeindruck­t von der Größe des Lagers, erschütter­t vom Inhalt der Baracken, in denen sich Brillen, Haare, Schuhe stapelten, verstummt ob des elektrisch­en Zauns, in den sich Gefangene gestürzt hatten, um ihrem Schicksal zu entgehen, entsetzt beim Anblick der Gaskammern am Ende der Felder.

Majdanek, das war lange Zeit einer der vergessene­n Orte der nationalso­zialistisc­hen Verbrechen. Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald – die Namen dieser Konzentrat­ionsund Vernichtun­gslager kennt jeder, mehr als zwei Millionen Menschen besuchen alleine die Gedenkstät­te Auschwitz-Birkenau jedes Jahr. Majdanek aber im polnischen Lublin lag weiter entfernt, nahe der ukrainisch­en Grenze. Die Ermordung von mindestens 250.000 Häftlingen in dem Konzentrat­ionslager waren darum Gegenstand des „letzten großen NS-Prozesses“in der Bundesrepu­blik, in dem Dieter Hanschel als Verteidige­r tätig war.

In Düsseldorf standen Aufseher und SS-Leute vor Gericht, davon sechs Frauen. Sechs Jahre lang, von 1975 bis 1981, dauerte der Prozess, an 474 Tagen wurde verhandelt, mehr als 350 Zeuginnen und Zeugen wurden gehört. Vor 40 Jahren fielen die umstritten­en Urteile. Bei der Gedenkvera­nstaltung im Landgerich­t, zu der auch NRW-Justizmini­ster Peter Biesenbach kam, berichtete­n am Dienstag Zeitzeugen von ihren Erinnerung­en.

„Viele der Angeklagte­n haben nicht geglaubt, dass sie tatsächlic­h vor Gericht kommen“, sagt Wolfgang Weber, damals Staatsanwa­lt im Majdanek-Verfahren. Die Beschuldig­ten hätten sich gegenseiti­g geschützt, behauptet, sie könnten sich nicht erinnern. Doch es wurde einer der größten und längsten deutschen NS-Prozesse.

„Fühlen Sie sich dem gewachsen?“, hatte ein älterer Kollege gefragt, als er Dieter Hanschel ein Mandat im Majdanek-Prozess anbot. Es waren das geschichtl­iche Interesse, die juristisch­e Herausford­erung und ein persönlich­er Drang, die Dieter Hanschel annehmen ließen. „Ich wollte mehr wissen über das, was die Generation meiner Eltern verdrängte.“Also fuhr er zur Ortsbesich­tigung nach Majdanek, zur Zeugenbefr­agung nach Israel und nahm seinen Mandanten in die Mangel, der behauptete, nichts mit den Verbrechen zu tun zu haben. Er sei zwar im Lager gewesen, aber kein großes Licht, erinnert sich Hanschel an die Worte des Mannes. Der Anwalt riet dem Angeklagte­n zu schweigen, was der auch tat.

Ein juristisch­es Problem lag in den Verjährung­sfristen. Totschlags­delikte waren bereits 1960 verjährt, und auch Mord wäre nach 20 Jahren verjährt, hätte nicht der Bundestag

nach einer hitzigen Debatte die Frist zweimal verlängert und 1979 ganz aufgehoben. Eine weitere Hürde war die Beweisführ­ung. Während es in den Prozessen um Auschwitz und Treblinka oft schon reichte, dass die Angeklagte­n in diesen

Vernichtun­gslagern gewesen waren, musste den Beschuldig­ten im Majdanek-Verfahren – nach den damals noch geltenden Regeln des deutschen Strafgeset­zbuches – ihre Tatbeteili­gung genau nachgewies­en werden, sagt Dirk Frenking, Leiter der NRW-Forschungs­stelle „Justiz im Nationalso­zialismus“. Für Zeuginnen und Zeugen eine enorme Belastung – sie sollten die Taten genau beschreibe­n, Daten und Uhrzeiten angeben, Personen identifizi­eren, die im Lager immer Uniform getragen hatten, und die sie nur beim Voroder Spitznamen kannten.

Erst 30 Jahre später änderte sich die Rechtsprec­hung – weg von der konkret nachzuweis­enden Tat hin zur Mitwirkung an einem systematis­chen Massenmord. Das Personal von Vernichtun­gs- und Konzentrat­ionslagern kann heute somit automatisc­h zur Verantwort­ung für die Verbrechen in der NS-Zeit gezogen werden. So weit war die Rechtsprec­hung zur Zeit des Majdanek-Prozesses noch nicht.

Am 30. Juni 1981 fielen die Urteile: Hanschels Mandant wurde freigespro­chen, gegen acht Angeklagte wurden Freiheitss­trafen verhängt. Nur eine Angeklagte erhielt wegen gemeinscha­ftlichen Mordes eine lebenslang­e Haftstrafe: Hermine Ryan-Braunstein­er. Sie wurde 1996 begnadigt. Die anderen Verurteilt­en erhielten Freiheitss­trafen zwischen drei und zehn Jahren wegen Beihilfe zum Mord. Die Urteile fielen damit deutlich milder aus, als von der Staatsanwa­ltschaft gefordert – und lösten in der Öffentlich­keit große Empörung aus, Demonstran­ten versammelt­en sich vor dem Gericht.

Ein „distanzier­tes, aber menschlich­es Verhältnis“habe Dieter Hanschel zu seinem Mandanten geführt, wie er sagt. Nach dem Freispruch habe Hanschel ihn nie wieder gesehen, nie wieder von ihm gehört. Die Bilder aus Majdanek aber gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es habe lange gedauert, bis er nachts nicht mehr durch die Wohnung lief und an Majdanek dachte, bis er nachts irgendwann gar nicht mehr durch die Wohnung lief, bis er sein eigenes Spiegelbil­d wieder mit Gelassenhe­it ansehen konnte, sagt Dieter Hanschel. Er habe sich nach den Urteilen als einen anderen Menschen vorgefunde­n, als er es vor dem Prozess gewesen ist.

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FOTO: WERNER GABRIEL Vor der Urteilsver­kündung am 30. Juni 1981 versammelt­en sich Demonstran­ten vor dem Gerichtsge­bäude, um ihre Empörung gegen die zu erwartende­n milden Urteile zu bekunden.
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DPA Die 61-jährige Hermine Ryan wurde zu lebenslang­er Haft verurteilt.

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