Das wilde Leben des Pogues-Sängers
Der legendäre Kopf der Band, Shane MacGowan, wird mit einem großartigen Film geehrt.
Den schönsten Satz des Films spricht Shane MacGowan, als er gefragt wird, wie es ihm gelungen sei, all diese schönen Lieder zu schreiben. „Die Songs schweben so herum im Äther der Melodien“, sagt er: „Also greife ich zu, bevor Paul Simon sie sich schnappt.“
„Shane“heißt die Doku von Julien Temple, die dem 62 Jahre alten Sänger der Pogues gewidmet ist. Die Gruppe hatte in den 80er-Jahren eine ergebene Fanschaft. „Dirty Old Town“und „A Pair Of Brown Eyes“hießen ihre Hits, und natürlich das Weihnachtslied „Fairytale Of New York“. Ihr Sänger Shane MacGowan war auch denjenigen bekannt, die seinen irischen FolkPunk nicht mochten. Er hatte schon als junger Kerl kaum noch Zähne im Mund, und sein Alkoholkonsum war legendär: Drei Flaschen Whiskey pro Tag waren es zu Hochzeiten. Die anderen Drogen kamen obendrauf.
Das ist es denn auch, was diesen liebevollen, formal großartigen und kulturgeschichtlich weit ausgreifenden Film so traurig macht: Shane MacGowan sitzt heute im Rollstuhl, der Kopf ruht auf der Schulter. Er bewegt sich wie in Zeitlupe, das Reden fällt ihm schwer. „Er hat sich selbst ausgelöscht“, sagt sein Vater.
Der Film erzählt ausführlich von MacGowans Kindheit in Irland. Die Familie war arm, der am Weihnachtstag 1957 geborene MacGowan
half früh auf der Farm beim Schlachten der Truthähne. Beim Spielen fand er Schädel und Knochen von Landsleuten, die während der großen Hungersnot 1849 notdürftig verscharrt worden waren. Abends machte man Musik, es wurde getanzt, und schon mit drei Jahren stand MacGowan auf dem Tisch und war mittendrin. Zwei Guinness pro Abend trank er, weil seine Familie meinte, wer früh etwas bekomme, übertreibe es später nicht.
Regisseur Julien Temple kennt sich aus mit den Helden der Widerborstigkeit. Er drehte Filme über die Sex Pistols und The Clash, und 1986 brachte er den Spielfilm „Absolute Beginners“mit David Bowie und Patsy Kensit ins Kino. Temple mischt nun Archivmaterial, Animationen und nachgestellte Szenen mit Gesprächen, die MacGowan mit Weggefährten wie Johnny Depp, Bobby Gillespie von Primal Scream und dem früheren Sinn-Féin-Chef Gerry Adams führt. Kein Mitglied der Pogues kommt zu Wort, dafür MacGowans Vater und Schwester.
Erst nach einer Stunde ist Temple bei den Pogues angelangt. MacGowan war damals einer der Helden der Londoner Punkszene. Und er wollte vom „Drecksloch“London aus die Tradition der irischen Musik retten. Die Engländer, von denen sich die Iren erst 1922 befreien konnten, sind dem IRA-Sympathisanten MacGowan verhasst. Und erst in der Diaspora, in die seine Eltern zogen, um ihr Glück zu finden, besann er sich auf seine Wurzeln. Seine Texte spiegeln die Naturerlebnisse des spielenden Kindes mit den Mythen seiner Heimat und bringen sie in einer im Stahlbad des Punk gehärteten
Sprache dar, die er auf dem Grund des Pint-Glases fand. „Fairytale Of New York“, das aus dem Dialog eines Paares besteht, dem die Liebe abhanden gekommen ist, wird fast jedes Jahr von der BBC zensiert, weil die englischen Wörter für „Schlampe“und „Schwuchtel“vorkommen. Da es aber so wahrhaftig ist und so schön, ist es eines der erfolgreichsten Weihnachtslieder der vergangenen Jahrzehnte.
Joe Strummer, Kopf von The Clash, nannte MacGowan einen der besten Poeten der englischen Sprache. Darauf angesprochen, ob er sich darüber freue, entgegnete MacGowan, dass er das Lob doof finde, weil es ja bedeute, dass er sich die Musik hätte sparen können. Der Pogues-Manager zwang die Musiker zu endlosen Touren mit 363 Konzerten pro Jahr. „Ab 1988 ging alles den Bach runter“, sagt MacGowan. Er drehte durch, hörte Stimmen: „Heroin ist die Droge, die man nimmt, wenn das Leben unerträglich geworden ist.“Sein Rausschmiss aus der Band fühlte sich wie eine Befreiung an.
Kürzlich heiratete MacGowan seine Lebensgefährtin. Zu seinem 60. Geburtstag kamen Bono und Nick Cave zusammen, um ihn mit einem Konzert zu ehren. Es war auch die Feier eines Wunders: Shane MacGowan ist noch da.
„Shane“, England 2020 – Regie: Julien Temple, mit Shane MacGowan, Bobby Gillespie, Johnny Depp, 124 Min.