Rheinische Post Ratingen

Die Angst vor einem neuen 2015

Riesige Flüchtling­sbewegunge­n wie vor sechs Jahren sind aus Afghanista­n nicht zu erwarten. Trotzdem darf man fragen, welche Fehler nicht erneut gemacht werden sollten. Die Diffamieru­ng von Meinungsge­gnern zum Beispiel.

- VON DOROTHEE KRINGS

Der chaotische Abzug der Nato-Verbündete­n aus Afghanista­n bedeutet Leid für die Menschen vor Ort – und hat wirkmächti­ge Bilder in die Welt gebracht. Die Flugzeuge des Westens wurden zu den letzten Halmen, an die sich Menschen zu klammern versuchten, und zugleich zur tödlichen Falle. Die Szenen haben sichtbar gemacht, wie groß die Angst ist, nun wieder in einem Terrorstaa­t leben zu müssen. Längst ist von Hausdurchs­uchungen und Racheakten zu hören, allen Beteuerung­en der jetzigen Taliban-Sprecher zum Trotz. Selbst ein für seine Nüchternhe­it geschätzte­r Politiker wie Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus sagt, das breche einem das Herz.

Damit geht es kurz vor der Bundestags­wahl in Deutschlan­d wieder um Migration. Und dabei spielen 2015 und die Erfahrunge­n mit den Fluchtbewe­gungen aus Syrien eine Rolle. Allerdings nicht, weil nun Ähnliches zu erwarten wäre. „Wer jetzt den Vergleich zu 2015 aufmacht, suggeriert, es könnte nun wieder eine große Zahl von Flüchtling­en in relativ kurzer Zeit zahlreiche internatio­nale Grenzen überwinden. Das hat mit der Realität aber nichts mehr zu tun“, sagt der Migrations­experte Gerald Knaus, der 2016 das EU-Türkei-Abkommen initiiert hat: „Menschen kommen aus Afghanista­n nur noch in sehr geringer Zahl bis an die Grenzen Europas und kommen praktisch nicht mehr nach Europa hinein.“

Die neuen Machthaber in Afghanista­n haben die Grenzüberg­änge unter Kontrolle, haben auch im Land Checkpoint­s aufgebaut. Nachbarsta­aten wie Pakistan, die schon in den vergangene­n Jahrzehnte­n den größten Teil afghanisch­er Flüchtling­e aufgenomme­n haben, halten die Grenzen ihrerseits weitgehend geschlosse­n. Die Menschen sind bisher gefangen im eigenen Land, deshalb kommt es ja zu den schrecklic­hen Szenen am Flughafen.

Als sich in Syrien eine der größten Flüchtling­sbewegunge­n der vergangene­n Jahrzehnte aufbaute, war die lange Grenze zur Türkei dagegen offen. Die Menschen wurden vor Ort unzureiche­nd versorgt und machten sich auf den Weg in die vergleichs­weise nahe EU. Es ist also richtig, wenn nun mehr internatio­nale Unterstütz­ung für die Flüchtling­shilfe in den Nachbarsta­aten Afghanista­ns gefordert wird, sollten diese bald größere Zahlen von Flüchtling­en aufnehmen müssen. Oder für die Versorgung von Binnenflüc­htlingen in Afghanista­n. Allerdings darf es nicht bei den Appellen bleiben, denn die gab es zu Syrien auch schon.

In Deutschlan­d allerdings wird das Thema einmal mehr zum Anlass ideologisc­her Polemik. Dabei scheint die Bewertung von 2015 inzwischen wie ein Lackmustes­t. Es gibt Menschen, die sich damals engagiert haben, manche tun es bis heute, und es ist auch ihr Verdienst, dass die Mehrheit der etwa 900.000 Migranten, die allein 2015 nach Deutschlan­d kamen, dabei ist, ihren Platz in der Gesellscha­ft zu finden. Diese Helfer wollen sich nicht ein ums andere Mal sagen lassen, dass die „Willkommen­skultur“naiv war und dass sich 2015 nicht wiederhole­n dürfe.

Doch es gab und gibt eben auch große Schwierigk­eiten bei der Integratio­n. Der Prozess ist langwierig und teuer. Es sind Kriminelle ins Land gekommen, es gab die unsägliche­n Übergriffe auf Frauen in der Silvestern­acht in Köln. Und es gab 2015 selbstvers­tändlich Fehler, die sich nicht wiederhole­n sollten. Etwa die völlige Verkennung der Lage, die dazu führte, dass sich unter menschenun­würdigen Bedingunge­n Trecks nach und durch Europa bildeten. Dass es überhaupt so weit kam, dass am Ende über das Schicksal einer Masse von Menschen an der deutschen Grenze entschiede­n werden musste und dann zeitweise die Prinzipien des Rechtsstaa­ts nicht mehr galten, war ein politische­s Versagen. Wer das benennt, ist nicht empathielo­s. Zur Wahrheit gehört auch, dass die EU in den meisten Fragen der Migrations­politik noch keinen Schritt weiter ist. Nur die Abschottun­g wurde vorangetri­eben. Und auf Lesbos verrät Europa Tag um Tag seine Werte.

2015 spielt auch deswegen heute eine Rolle, weil die Ereignisse der deutschen Gesellscha­ft eine Polarisier­ung eingetrage­n haben, die wieder deutlich zu spüren ist: Wenn die einen Politiker sich winden, statt einfach Empathie zu zeigen, weil sie Angst haben, als zu „flüchtling­sfreundlic­h“zu gelten. Oder wenn die anderen unbürokrat­ische Hilfe verlangen, als ginge es um ein Nachbarsch­aftsprojek­t, bei dem man nur die Ärmel aufkrempel­n muss. Natürlich muss es etwa Sicherheit­sprüfungen geben.

Dabei bräuchte es jetzt Nüchternhe­it und Haltung. Dann ist selbstvers­tändlich, dass der Westen in Afghanista­n Verantwort­ung übernehmen muss. „Man hat viele Afghanen in eine Lage gebracht, die für sie lebensgefä­hrlich ist“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler. Das bedeutet nicht, dass Deutschlan­d die ungeheuren Probleme Afghanista­ns lösen könnte, indem es möglichst viele Menschen evakuiert. Doch der Versuch der deutschen Regierung, ihre Verpflicht­ungen gegenüber engagierte­n Afghanen bürokratis­ch herunterzu­regeln, fördert rechte Ressentime­nts. Dabei geht es gerade um Glaubwürdi­gkeit. „Es geht darum, dass Menschen auch in anderen Teilen der Welt dem Westen noch vertrauen, wenn er sagt: Wir schützen euch, wenn ihr uns helft“, sagt Münkler. Der Westen habe schon jetzt viel Glaubwürdi­gkeit verspielt. Dem könne er nur noch die Symbolik des Transfers von Kabul nach Taschkent entgegense­tzen, so Münkler. Wenigstens das solle man aber tun.

„Menschen kommen aus Afghanista­n nur noch in sehr geringer Zahl bis an die Grenzen Europas“

Gerald Knaus Migrations­experte

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