„Es kann jede Minute passieren“
Basira Shahzad ist 2015 vor den Taliban nach Deutschland geflohen. Jetzt bangt sie um ihre Familie in Kabul.
RATINGEN Basira Shahzad hatte ihr Leben lang Angst vor den Taliban. Schon mit sechs Jahren hat sie erfahren müssen, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man Widerworte gibt. „Die Taliban stürmten unser Haus in Kabul“, erzählt sie. „Sie forderten meine Eltern auf, ihr Haus und das Motorrad herauszugeben.“Auch auf die größere Schwester hatten sie ein Auge geworfen. Shahzads Vater stellte sich den Eindringlingen in den Weg und weigerte sich, die Forderungen zu erfüllen.
Einer aus der Gruppe zückte eine Waffe und schoss. Der Vater wurde nicht getroffen. Ein Querschläger traf das damals junge Mädchen jedoch am Rücken. „Seitdem sitze ich im Rollstuhl und habe bereits viele Operationen über mich ergehen lassen“, erzählt Shahzad. Das war im Jahr 2001. Kurz darauf wurde das Taliban-Regime gestürzt. Basira konnte zur Schule gehen und ein fast normales Kinderleben führen. Zumindest ein paar Jahre lang.
Mit 14 Jahren begann sie zu arbeiten. Doch schon bald holte die Vergangenheit sie ein. „Ich habe in einer großen Firma gearbeitet, gemeinsam mit deutschen und amerikanischen Kollegen“, erinnert sich Shahzad. Die Taliban formierten sich inzwischen neu, um die Macht im Land zurückzuerlangen. Ihr Mittel: Anschläge gegen Ausländer und die Zivilbevölkerung.
Wieder geriet Basira Shahzad ins Visier der radikalen islamischen Bewegung. „Ich wurde aufgefordert, ein Sprengstoffattentat auszuführen“, so Shazad. Ihre ausländischen Arbeitskollegen sollten die Opfer sein. Die junge Frau weigerte sich. Seitdem leben weder sie noch ihre Familie ohne Angst. Die Taliban kündigten an, ihre Familie zu verfolgen und zu töten, sollte man sie nicht ausliefern.
Um ihre Eltern und Geschwister zu schützen, floh Basira Shahzad 2015 allein Richtung Deutschland und fand in Ratingen eine neue Heimat. Doch wenn sie in diesen Tagen die Nachrichten verfolgt, sind alle Erinnerungen wieder präsent. Erneut haben die Taliban die Macht übernommen. Auch Kabul ist inzwischen in ihrer Hand. Und mitten in der Stadt lebt ihre Familie.
„Meine Eltern, meine Geschwister, deren Frauen und Kinder halten sich versteckt“, berichtet die Ratingerin. „Sie können das Haus nicht verlassen, sie haben Angst um ihr Leben.“Shahzad bangt mit ihnen. Immer wieder versucht sie per WhatsApp Kontakt aufzunehmen. Manchmal klappt es für einen kurzen Austausch. Manchmal nicht.
Das Land zu verlassen ist für die Familie unmöglich. Panikerfüllte Menschen stürmen den Flughafen, Verkehrswege hingegen oft leer. Viele Menschen trauen sich nicht mehr aus dem Haus, Geschäfte, Banken und ein Großteil der Eichrichtungen geschlossen. „Meine Mutter hat Herzprobleme, braucht Medikamente“, sagt Shazad. Der Vater leide unter Bluthochdruck und müsste behandelt werden. Die Schwägerin sei im neunten Monat schwanger. Die Situation sei vollkommen chaotisch. „Wie es weitergehen soll, weiß niemand. Es gibt keine Lösung.“
Basira Shazad fühlt sich schuldig. Sie ist sich sicher: Bis heute suchen die Taliban nach ihr. Jeden Tag könnten sie ihre Drohung wahr machen und ihrer Familie etwas antun. „Es kann jede Stunde, jede Minute passieren, dass sie das Haus stürmen.“
Wie berechtigt ihre Sorgen sind, zeigt ein Vorfall, der erst vor einigen Wochen passierte. Basiras Bruder verkauft in einem Geschäft Damenkleidung und Kosmetikartikel. Beides passt nicht in die Philosophie der Taliban. Sie verübten einen Brandanschlag und verletzten den Bruder schwer.
Gerne würde Shazad ihre Familie nach Deutschland holen. „Wenigstens so lange, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.“Doch sie weiß nicht, wie oder an wen sie sich wenden kann. Die Ratingerin kann die Bilder aus Kabul kaum ertragen. „Ich leide an einer Depression, muss Medikamente einnehmen.“Eigentlich soll sie in den nächsten Tagen eine Reha antreten, doch: „Wie kann ich so gesund werden?“