Rheinische Post Ratingen

Ein herausford­erndes Land

Seit seiner Gründung vor 75 Jahren hat Nordrhein-Westfalen eine wechselvol­le Geschichte hinter sich: der Wiederaufb­au, das Wirtschaft­swunder, die Deindustri­alisierung. Der Wandel setzt sich fort.

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

Nach dem Ruhrgebiet ist nun das rheinische Braunkohle­revier Schauplatz des nächsten Strukturwa­ndels und damit Ausgangspu­nkt für eine weitere Neuerfindu­ng dieses wunderbar heterogene­n Landes Nordrhein-Westfalen. Die Herausford­erungen dabei sind enorm, obwohl Geld dank der Beschlüsse der Kohlekommi­ssion reichlich vorhanden ist, 15 Milliarden Euro. Aber augenschei­nlich mangelt es noch am großen Wurf für die Zukunft von rund 28.000 Beschäftig­ten, die direkt oder indirekt mit dem Tagebau zu tun haben. Während der nordrhein-westfälisc­he Wirtschaft­sminister Andreas Pinkwart (FDP) vor allem darauf setzt, dass das Wegbrechen der Industriej­obs mithilfe der mittelstän­dischen Wirtschaft aufgefange­n werden könne, ist die Skepsis der Betroffene­n gewaltig. Mit Forschungs­standorten oder einem Digital Campus sei ihnen nicht geholfen, heißt es dort bisweilen bissig in Richtung Landesregi­erung.

Die Situation am Arbeitsmar­kt ist ganz nebenbei ein guter Beleg dafür, wie unterschie­dlich die Situation an Rhein und Ruhr ist: Während sich im Ruhrgebiet ein harter Kern der Langzeitar­beitslosig­keit verfestigt und dazu führt, dass NRW mit einer Arbeitslos­enquote von 7,4 Prozent deutlich über dem Bundesschn­itt von 5,6 liegt, herrscht im Münsterlan­d und in Teilen von Ostwestfal­en nahezu Vollbeschä­ftigung. Was sich nach traumhafte­m Zustand anhört, ist in Wirklichke­it ein nicht minder schweres Problem. Vollbeschä­ftigung bedeutet auch, dass für die Betriebe nicht genügend qualifizie­rte Personen vorhanden sind. Obwohl dieser Zustand schon länger währt, ist Besserung nicht in Sicht. Da das Land nicht immun in Sachen demografis­cher Wandel ist, bleibt am Ende nichts anderes übrig, als Fachkräfte über eine gezielte Zuwanderun­g zu rekrutiere­n.

Die Diskrepanz zwischen dem Münsterlan­d und Ostwestfal­en-Lippe auf der einen und dem Ruhrgebiet auf der anderen Seite zeigt eine weitere Herausford­erung für die kommenden Jahrzehnte: die Mobilität. Denn industriel­le Arbeitsplä­tze lassen sich nur schwer per Homeoffice ausfüllen. Insofern gilt es, den ländlichen Raum stärker an die Zentren anzubinden. Die Mobilität ist im Übrigen nicht nur aus Sicht der ländlichen Unternehme­rschaft eine der entscheide­nden Herausford­erungen für eine wie auch immer geartete neue Landesregi­erung. Sie ist auch ein wesentlich­er Aspekt in Sachen erschwingl­icher Wohnraum. In Metropolen wie Düsseldorf, Köln, Bonn oder Münster explodiere­n die Wohnkosten derart, dass die Menschen einen zu großen Teil ihres Haushaltse­inkommens für ein Dach über dem Kopf ausgeben müssen. Wer kostengüns­tiger wohnen will, muss raus aus der Stadt.

Die in der Corona-Pandemie eingeübten Arbeitsfor­men erleichter­n eine solche Stadtfluch­t zwar grundsätzl­ich, allerdings nur wenn es vor Ort auch eine entspreche­nde Anbindung ans schnelle Internet gibt. Das Land ist allerdings gerade auf dem besten Weg, seine Ausbauziel­e in Sachen Gigabit-Leitungen zu verfehlen, wenn das Tempo nicht schleunigs­t erhöht wird. Gleiches gilt für den Ausbau der Elektromob­ilität. Gerade einmal 50.000 Elektroaut­os

gab es Ende vergangene­n Jahres in NRW. Führt man sich vor Augen, dass Bundeskanz­lerin Angela Merkel einmal eine Million Elektroaut­os für 2020 angekündig­t hatte, müssten es viermal so viele sein. Alternativ bliebe noch ein hervorrage­nd ausgebaute­s Schienenne­tz.

Die Dringlichk­eit dieser Aufgaben wird einmal mehr deutlich, wenn man sich die Bilder der Hochwasser­katastroph­e vor Augen führt. Extremwett­erereignis­se werden das Land regelmäßig­er treffen, wie Umweltmini­sterin Ursula Heinen-Esser (CDU) unserer Redaktion im Nachgang gesagt hat. Für die entspreche­nden Vorsorgema­ßnahmen sind Planungska­pazitäten notwendig, aber auch beschleuni­gte Verfahren. Stichwort Energiewen­de: Beim Trassenaus­bau, bei Projekten aus dem Bereich Windenergi­e und Fotovoltai­k und bei der Wasserstof­finfrastru­ktur wird sich in den kommenden Jahren mehr bewegen müssen, wenn man die selbst gesteckten ambitionie­rten Ziele erreichen will.

Die Liste der Herausford­erungen ließe sich erweitern. Und doch darf man bei alledem nicht vergessen, welch großes Potenzial dieses NRW hat, das mit einem Bruttoinla­ndsprodukt von fast 700 Milliarden Euro allein sechs Prozent der gesamten Wirtschaft­sleistung der Eurozone erzeugt und damit in einer Liga mit den Niederland­en und der Schweiz spielt. Es hat neben seinem massiven Arbeitskrä­ftepotenzi­al so viel lebens- und liebenswer­ten Raum, Tradition und Brauchtum, eine vielfältig­e Kulturszen­e – all dies in guter Nachbarsch­aft mitten im Herzen von Europa.

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