Ein herausforderndes Land
Seit seiner Gründung vor 75 Jahren hat Nordrhein-Westfalen eine wechselvolle Geschichte hinter sich: der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder, die Deindustrialisierung. Der Wandel setzt sich fort.
Nach dem Ruhrgebiet ist nun das rheinische Braunkohlerevier Schauplatz des nächsten Strukturwandels und damit Ausgangspunkt für eine weitere Neuerfindung dieses wunderbar heterogenen Landes Nordrhein-Westfalen. Die Herausforderungen dabei sind enorm, obwohl Geld dank der Beschlüsse der Kohlekommission reichlich vorhanden ist, 15 Milliarden Euro. Aber augenscheinlich mangelt es noch am großen Wurf für die Zukunft von rund 28.000 Beschäftigten, die direkt oder indirekt mit dem Tagebau zu tun haben. Während der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) vor allem darauf setzt, dass das Wegbrechen der Industriejobs mithilfe der mittelständischen Wirtschaft aufgefangen werden könne, ist die Skepsis der Betroffenen gewaltig. Mit Forschungsstandorten oder einem Digital Campus sei ihnen nicht geholfen, heißt es dort bisweilen bissig in Richtung Landesregierung.
Die Situation am Arbeitsmarkt ist ganz nebenbei ein guter Beleg dafür, wie unterschiedlich die Situation an Rhein und Ruhr ist: Während sich im Ruhrgebiet ein harter Kern der Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt und dazu führt, dass NRW mit einer Arbeitslosenquote von 7,4 Prozent deutlich über dem Bundesschnitt von 5,6 liegt, herrscht im Münsterland und in Teilen von Ostwestfalen nahezu Vollbeschäftigung. Was sich nach traumhaftem Zustand anhört, ist in Wirklichkeit ein nicht minder schweres Problem. Vollbeschäftigung bedeutet auch, dass für die Betriebe nicht genügend qualifizierte Personen vorhanden sind. Obwohl dieser Zustand schon länger währt, ist Besserung nicht in Sicht. Da das Land nicht immun in Sachen demografischer Wandel ist, bleibt am Ende nichts anderes übrig, als Fachkräfte über eine gezielte Zuwanderung zu rekrutieren.
Die Diskrepanz zwischen dem Münsterland und Ostwestfalen-Lippe auf der einen und dem Ruhrgebiet auf der anderen Seite zeigt eine weitere Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte: die Mobilität. Denn industrielle Arbeitsplätze lassen sich nur schwer per Homeoffice ausfüllen. Insofern gilt es, den ländlichen Raum stärker an die Zentren anzubinden. Die Mobilität ist im Übrigen nicht nur aus Sicht der ländlichen Unternehmerschaft eine der entscheidenden Herausforderungen für eine wie auch immer geartete neue Landesregierung. Sie ist auch ein wesentlicher Aspekt in Sachen erschwinglicher Wohnraum. In Metropolen wie Düsseldorf, Köln, Bonn oder Münster explodieren die Wohnkosten derart, dass die Menschen einen zu großen Teil ihres Haushaltseinkommens für ein Dach über dem Kopf ausgeben müssen. Wer kostengünstiger wohnen will, muss raus aus der Stadt.
Die in der Corona-Pandemie eingeübten Arbeitsformen erleichtern eine solche Stadtflucht zwar grundsätzlich, allerdings nur wenn es vor Ort auch eine entsprechende Anbindung ans schnelle Internet gibt. Das Land ist allerdings gerade auf dem besten Weg, seine Ausbauziele in Sachen Gigabit-Leitungen zu verfehlen, wenn das Tempo nicht schleunigst erhöht wird. Gleiches gilt für den Ausbau der Elektromobilität. Gerade einmal 50.000 Elektroautos
gab es Ende vergangenen Jahres in NRW. Führt man sich vor Augen, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal eine Million Elektroautos für 2020 angekündigt hatte, müssten es viermal so viele sein. Alternativ bliebe noch ein hervorragend ausgebautes Schienennetz.
Die Dringlichkeit dieser Aufgaben wird einmal mehr deutlich, wenn man sich die Bilder der Hochwasserkatastrophe vor Augen führt. Extremwetterereignisse werden das Land regelmäßiger treffen, wie Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) unserer Redaktion im Nachgang gesagt hat. Für die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen sind Planungskapazitäten notwendig, aber auch beschleunigte Verfahren. Stichwort Energiewende: Beim Trassenausbau, bei Projekten aus dem Bereich Windenergie und Fotovoltaik und bei der Wasserstoffinfrastruktur wird sich in den kommenden Jahren mehr bewegen müssen, wenn man die selbst gesteckten ambitionierten Ziele erreichen will.
Die Liste der Herausforderungen ließe sich erweitern. Und doch darf man bei alledem nicht vergessen, welch großes Potenzial dieses NRW hat, das mit einem Bruttoinlandsprodukt von fast 700 Milliarden Euro allein sechs Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der Eurozone erzeugt und damit in einer Liga mit den Niederlanden und der Schweiz spielt. Es hat neben seinem massiven Arbeitskräftepotenzial so viel lebens- und liebenswerten Raum, Tradition und Brauchtum, eine vielfältige Kulturszene – all dies in guter Nachbarschaft mitten im Herzen von Europa.