Der wahre Kampf in Afghanistan
Demokratiebildung statt Krieg – das müsste außenpolitisch jetzt der Weg sein.
Unser Begriff der Menschenwürde ist geprägt durch Kants Bestimmung des Menschen als Selbstzweck: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“Der Stellenwert des Menschen als Zweck an sich scheint in vielen islamischen Ländern nicht gegeben zu sein. Das gilt nicht nur für die Innenverhältnisse der Länder, sondern auch für das Verhältnis des Westens zu ihnen.
Die aktuellen Entwicklungen sind ein Beispiel. Die Taliban verstehen den Islam auf eine Weise, die im Menschen ein bevormundetes und fremdbestimmtes Wesen sieht, das die Funktion hat, sich den als religiös deklarierten Gesetzen zu unterwerfen. Demnach
ist die Gott-Mensch-Beziehung keine auf Freiheit, und schon gar nicht auf Liebe und Vertrauen basierte, sondern eine Unterwerfungsbeziehung. Was als Gottesgesetz gilt, sprich als Scharia, bestimmen für die Afghanen die Gelehrten der Taliban. Denn Scharia ist ein dehnbarer Begriff, der von den Interpretationen der jeweiligen Gelehrten abhängt. Hier kann sich Religion schnell zum Instrument der Repression entwickeln.
Aber auch die Taliban selbst sind ein Produkt politischer Instrumentalisierung. In den 80er-Jahren war die aus Saudi-Arabien nach Afghanistan importierte dschihadistische Ideologie eine bei den USA willkommene Auslegung des Islams im Kampf gegen die Sowjetunion. Viele Menschen in der islamischen Welt erfahren die Beziehung
des Westens zu ihnen als eine auf Nützlichkeit basierte. Ich würde mir wünschen, dass die jüngste Entwicklung in Afghanistan einen Anlass dazu gibt, die Frage an sich als Europäer zu stellen, ob wir in unserer Außenpolitik die Menschenwürde und -rechte als nicht verhandelbare Werte vertreten, aber diese auch vermitteln wollen. Die Investition in Krieg ist nicht der richtige Weg. Demokratiebildung muss von unten stattfinden. Der eigentliche Kampf ist nicht gegen die Taliban, sondern für die Menschenwürde als absoluten Wert.
Unser Autor ist Islamwissenschaftler an der Universität Münster. Er wechselt sich hier mit der Benediktinerin Philippa Rath, der evangelischen Pfarrerin Friederike Lambrich und dem Rabbi Jehoschua Ahrens ab.