Joe Bidens bitterste Stunde
Der US-Präsident hat Rache für das Attentat am Flughafen Kabul geschworen. Terroristen hatten den US-amerikanischen Truppen die schwersten Verluste seit mehr als zehn Jahren zugefügt.
WASHINGTON In der Stunde des Terrorschocks klang US-Präsident Joe Biden, der Realist, der außenpolitisch nur noch das tun will, was Amerika tatsächlich zu leisten vermag, wie George W. Bush. Wie der Präsident, der wie kein anderer die amerikanische Hybris im Rausch nach dem Sieg im Kalten Krieg verkörperte: „Wir werden nicht vergeben, wir werden nichts vergessen, wir werden euch jagen, und ihr werdet bezahlen“, ließ er den afghanischen Ableger des „Islamischen Staats“wissen – der Terrorgruppe, die sich zum Attentat am Flughafen von Kabul bekannte. Sein Land, so Biden, werde hart zurückschlagen.
Es war eine Reflex-Reaktion. Die Androhung von Vergeltung, der entschlossene Ton: Die ungeschriebenen Gesetze Washingtons verlangen es so. Kein US-Präsident will sich in einem solchen Moment Schwäche nachsagen lassen. Gleichwohl stehen die Sätze, die an Bushs Rhetorik nach den Anschlägen vom 11. September 2001 denken lassen, im Kontrast zur Realität. Statt wie damals Interventionen ins Auge zu fassen, verabschiedet sich die Supermacht gerade aus Weltgegenden wie Afghanistan,
wo nach nüchterner Abwägung, für die der Name Biden ebenfalls steht, die Kosten militärischer Präsenz deren Nutzen deutlich übersteigen. Keinem noch so begabten Spin-Meister des Weißen Hauses wird es gelingen, den Widerspruch zwischen Rückzug und markiger Rhetorik wegzuerklären.
Für Biden ist es die bislang bitterste Stunde seiner Präsidentschaft. Praktisch jede Rede – zu welchem Thema auch immer – beendet er mit den Worten, dass Gott „unsere Truppen“beschützen möge. Auf Karteikarten notiert er die Zahl der Soldaten, die in den Kriegen im Irak und in Afghanistan ums Leben kamen, so wie er auch die aktuelle Zahl der Corona-Opfer aufschreibt. Die Kärtchen hat er jederzeit parat, um sie aus der Innentasche seines Jacketts ziehen zu können.
Bislang war Biden, der Eigenwerbung nach so etwas wie der lebenskluge Beschützer der Truppe, stolz auf die Tatsache, dass in den sieben Monaten seit seiner Amtsübernahme kein einziger GI am Hindukusch starb. Und nun das: Das erste Mal seit Februar 2020 landen Särge, dort herkommend, in Dover bei der Luftwaffenbasis in Bidens Wahlheimatstaat Delaware. Damit hat sich, so fasst es die „New York Times“zusammen, das Worst-Case-Szenario des Rückzugs bewahrheitet. Eines Rückzugs, für den sich der Präsident von Anfang an wegen eines teils naiven, teils schludrigen, teils durch eine katastrophal schwerfällige Bürokratie behinderten Krisenmanagements tadeln lassen musste – völlig zu Recht.
Dennoch, es sagt viel über die Debattenkultur der tief gespaltenen Vereinigten Staaten, dass die Opposition das Blutbad von Kabul reflexartig zu einer Art Generalabrechnung mit dem Commander-inChief nutzt. Mitch McConnell, im Senat die Nummer eins der Konservativen, spricht von Terrorgruppen, die sich durch Abzug und Attentate gleichermaßen ermutigt fühlten. „Die Terroristen werden nicht aufhören, Amerika zu bekämpfen, nur weil unsere Politiker die Lust verlieren, die Terroristen zu bekämpfen.“Das klingt noch vergleichsweise sachlich, gemessen an Stimmen, die Bidens Rücktritt oder gar seine Amtsenthebung verlangen. Josh Hawley, ein Senator aus Missouri, wettert, es sei nun auf schmerzliche Weise klar, dass Biden weder den Willen noch die Fähigkeit zum Führen habe: „Er muss abtreten“. Trotz seines Studiums an Eliteuniversitäten und einer sich anschließenden steilen Anwaltskarriere versucht Hawley in die Fußstapfen Donald Trumps zu treten, indem er mit populistischer Rhetorik den Arbeiterführer im Kampf gegen die politische Elite gibt – mit Blick auf 2024 und die nächste Präsidentschaftskandidatur.
Kurzum: Der breite Riss, der quer durch Amerikas politische Landschaft geht, ein Klima, in dem die Lautstarken die Kompromissbereiten zu übertrumpfen hoffen, trägt zweifellos bei zur Schärfe der Polemik.
Was das afghanische Desaster für Bidens Zukunft im Weißen Haus bedeutet, lässt sich seriös kaum beurteilen. Es gibt Präzedenzfälle, die Prognosen, nach denen der Rest seiner Amtszeit im Zeichen einer nicht mehr aufzuhaltenden Talfahrt steht, zumindest als verfrüht, wenn nicht als unsinnig erscheinen lassen. 1983 hatte es Ronald Reagan mit einem Selbstmordattentäter zu tun, der einen Lastwagen voll Sprengstoff in eine Kaserne amerikanischer Marine-Infanteristen in Beirut lenkte und dabei 241 US-Soldaten tötete. Im Jahr darauf wurde Reagan nicht nur wiedergewählt, er landete einen Erdrutschsieg. Andererseits wäre da das Fiasko des Jimmy Carter, der 1980 in einem Wüstensturm scheiterte, Geiseln in Teheran durch eine riskante Kommandoaktion zu befreien. Das Debakel gilt bis heute als Sargnagel für die Wiederwahl Carters. Sein Amtsvorgänger Gerald Ford lehnte es seinerzeit übrigens ab, seinen Nachfolger wegen der Schlappe im Iran zu kritisieren. Trump, der einen Deal mit den Taliban aushandelte und damit die Weichen für einen Rückzug stellte, den Biden vollzog, kennt eine derartige Zurückhaltung nicht: „Was für ein furchtbares Scheitern“, kommentierte der Altpräsident das Debakel von Kabul. Wahrscheinlich habe der Führer einer Nation noch nie eine derart krasse Inkompetenz an den Tag gelegt.