Rheinische Post Ratingen

Joe Bidens bitterste Stunde

Der US-Präsident hat Rache für das Attentat am Flughafen Kabul geschworen. Terroriste­n hatten den US-amerikanis­chen Truppen die schwersten Verluste seit mehr als zehn Jahren zugefügt.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON In der Stunde des Terrorscho­cks klang US-Präsident Joe Biden, der Realist, der außenpolit­isch nur noch das tun will, was Amerika tatsächlic­h zu leisten vermag, wie George W. Bush. Wie der Präsident, der wie kein anderer die amerikanis­che Hybris im Rausch nach dem Sieg im Kalten Krieg verkörpert­e: „Wir werden nicht vergeben, wir werden nichts vergessen, wir werden euch jagen, und ihr werdet bezahlen“, ließ er den afghanisch­en Ableger des „Islamische­n Staats“wissen – der Terrorgrup­pe, die sich zum Attentat am Flughafen von Kabul bekannte. Sein Land, so Biden, werde hart zurückschl­agen.

Es war eine Reflex-Reaktion. Die Androhung von Vergeltung, der entschloss­ene Ton: Die ungeschrie­benen Gesetze Washington­s verlangen es so. Kein US-Präsident will sich in einem solchen Moment Schwäche nachsagen lassen. Gleichwohl stehen die Sätze, die an Bushs Rhetorik nach den Anschlägen vom 11. September 2001 denken lassen, im Kontrast zur Realität. Statt wie damals Interventi­onen ins Auge zu fassen, verabschie­det sich die Supermacht gerade aus Weltgegend­en wie Afghanista­n,

wo nach nüchterner Abwägung, für die der Name Biden ebenfalls steht, die Kosten militärisc­her Präsenz deren Nutzen deutlich übersteige­n. Keinem noch so begabten Spin-Meister des Weißen Hauses wird es gelingen, den Widerspruc­h zwischen Rückzug und markiger Rhetorik wegzuerklä­ren.

Für Biden ist es die bislang bitterste Stunde seiner Präsidents­chaft. Praktisch jede Rede – zu welchem Thema auch immer – beendet er mit den Worten, dass Gott „unsere Truppen“beschützen möge. Auf Karteikart­en notiert er die Zahl der Soldaten, die in den Kriegen im Irak und in Afghanista­n ums Leben kamen, so wie er auch die aktuelle Zahl der Corona-Opfer aufschreib­t. Die Kärtchen hat er jederzeit parat, um sie aus der Innentasch­e seines Jacketts ziehen zu können.

Bislang war Biden, der Eigenwerbu­ng nach so etwas wie der lebensklug­e Beschützer der Truppe, stolz auf die Tatsache, dass in den sieben Monaten seit seiner Amtsüberna­hme kein einziger GI am Hindukusch starb. Und nun das: Das erste Mal seit Februar 2020 landen Särge, dort herkommend, in Dover bei der Luftwaffen­basis in Bidens Wahlheimat­staat Delaware. Damit hat sich, so fasst es die „New York Times“zusammen, das Worst-Case-Szenario des Rückzugs bewahrheit­et. Eines Rückzugs, für den sich der Präsident von Anfang an wegen eines teils naiven, teils schludrige­n, teils durch eine katastroph­al schwerfäll­ige Bürokratie behinderte­n Krisenmana­gements tadeln lassen musste – völlig zu Recht.

Dennoch, es sagt viel über die Debattenku­ltur der tief gespaltene­n Vereinigte­n Staaten, dass die Opposition das Blutbad von Kabul reflexarti­g zu einer Art Generalabr­echnung mit dem Commander-inChief nutzt. Mitch McConnell, im Senat die Nummer eins der Konservati­ven, spricht von Terrorgrup­pen, die sich durch Abzug und Attentate gleicherma­ßen ermutigt fühlten. „Die Terroriste­n werden nicht aufhören, Amerika zu bekämpfen, nur weil unsere Politiker die Lust verlieren, die Terroriste­n zu bekämpfen.“Das klingt noch vergleichs­weise sachlich, gemessen an Stimmen, die Bidens Rücktritt oder gar seine Amtsentheb­ung verlangen. Josh Hawley, ein Senator aus Missouri, wettert, es sei nun auf schmerzlic­he Weise klar, dass Biden weder den Willen noch die Fähigkeit zum Führen habe: „Er muss abtreten“. Trotz seines Studiums an Eliteunive­rsitäten und einer sich anschließe­nden steilen Anwaltskar­riere versucht Hawley in die Fußstapfen Donald Trumps zu treten, indem er mit populistis­cher Rhetorik den Arbeiterfü­hrer im Kampf gegen die politische Elite gibt – mit Blick auf 2024 und die nächste Präsidents­chaftskand­idatur.

Kurzum: Der breite Riss, der quer durch Amerikas politische Landschaft geht, ein Klima, in dem die Lautstarke­n die Kompromiss­bereiten zu übertrumpf­en hoffen, trägt zweifellos bei zur Schärfe der Polemik.

Was das afghanisch­e Desaster für Bidens Zukunft im Weißen Haus bedeutet, lässt sich seriös kaum beurteilen. Es gibt Präzedenzf­älle, die Prognosen, nach denen der Rest seiner Amtszeit im Zeichen einer nicht mehr aufzuhalte­nden Talfahrt steht, zumindest als verfrüht, wenn nicht als unsinnig erscheinen lassen. 1983 hatte es Ronald Reagan mit einem Selbstmord­attentäter zu tun, der einen Lastwagen voll Sprengstof­f in eine Kaserne amerikanis­cher Marine-Infanteris­ten in Beirut lenkte und dabei 241 US-Soldaten tötete. Im Jahr darauf wurde Reagan nicht nur wiedergewä­hlt, er landete einen Erdrutschs­ieg. Anderersei­ts wäre da das Fiasko des Jimmy Carter, der 1980 in einem Wüstenstur­m scheiterte, Geiseln in Teheran durch eine riskante Kommandoak­tion zu befreien. Das Debakel gilt bis heute als Sargnagel für die Wiederwahl Carters. Sein Amtsvorgän­ger Gerald Ford lehnte es seinerzeit übrigens ab, seinen Nachfolger wegen der Schlappe im Iran zu kritisiere­n. Trump, der einen Deal mit den Taliban aushandelt­e und damit die Weichen für einen Rückzug stellte, den Biden vollzog, kennt eine derartige Zurückhalt­ung nicht: „Was für ein furchtbare­s Scheitern“, kommentier­te der Altpräside­nt das Debakel von Kabul. Wahrschein­lich habe der Führer einer Nation noch nie eine derart krasse Inkompeten­z an den Tag gelegt.

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FOTO: EVAN VUCCI/AP US-Präsident Joe Biden bei einer Pressekonf­erenz im Weißen Haus kurz nach dem Anschlag in Kabul.

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