Der Zorn der Thais
In Bangkok und anderen Städten eskalieren Demonstrationen für eine schärfere Corona-Politik. Dabei erhöhen die Ansammlungen die Infektionsgefahr. Tatsächlich geht es bei den Protesten um weit mehr als den Umgang mit der Pandemie.
BANGKOK Ein junger Mann nimmt ein paar Schritte Anlauf, dann wirft er einen Stein so weit, wie er kann. Irgendwo in der Ferne, wo sich die Polizisten formieren, werde er schon die Richtigen treffen, so das Kalkül. Ein anderer Demonstrant steckt eine Polizeiwache in Brand. Rufend fordern die Mitstreiter den Rücktritt von Premierminister Prayut Chano-cha. Und der Staat setzt nicht auf Deeskalation, sondern auf Gummigeschosse und Tränengas. Etliche Demonstranten werden festgenommen. Auf beiden Seiten gibt es Verletzte, wie lokale Medien immer wieder berichten.
Seit Wochen protestieren Menschen in Thailand, vor allem in Bangkok, gegen die Corona-Politik der Regierung. „Die sind unfähig, ein Gesundheitssystem zu managen“, sagt etwa ein maskierter Protestant auf der Straße in Bangkok gegenüber einem Kamerateam. „Wer mit Covid-19 infiziert ist, stirbt hier. Uns fehlen Krankenhausbetten und medizinische Behandlung.“Ähnliches rufen die Demonstranten durch Megafone. Die Auto- und Mopedfahrer, die Teile das Stadtzentrums blockieren, stimmen mit Hupkonzerten in den Protest ein.
Vor Monaten noch galt Thailand international als Vorbild im Umgang mit Covid-19. Angesichts deutlicher Begrenzungen des Gesundheitssystems hatte die Regierung früh mit einem Lockdown reagiert, sodass Infektionszahlen lange Zeit auf niedrigem Niveau blieben. Allerdings stiegen binnen Kurzem die Zahlen der Neuansteckungen rapide – von weniger als 100 pro Tag im April auf rund 20.000. An einem Tag sterben zeitweise mehr als 200 Menschen. Prägend für das Infektionsgeschehen ist die aggressivere Delta-Variante. Zumal bisher nur rund sechs Prozent der Bevölkerung geimpft sind – was die Demonstranten auf den Straßen auch lauthals kritisieren.
Auf den ersten Blick wirken da die Proteste, zu denen sich anfangs rund 1000 Personen versammelt hatten, dann aber immer mehr Menschen kamen, grotesk. Schließlich wird die Infektionslage durch die Ansammlungen noch angespannter. Zugleich herrscht großer Unmut über die ökonomischen Folgen der langsamen Impfpolitik. Gerade der Tourismussektor, der rund 20 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ausmacht, leidet unter deutlichen Einnahmeausfällen.
Anfangs konnte die Regierung die ökonomischen Auswirkungen noch abfedern. Durch eine historische
Senkung des Leitzinses und ein Konjunkturpaket in Höhe von zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts wurde zunächst das Schlimmste verhindert. Doch je weiter sich das Virus global ausbreitete, desto stärker litt auch Thailand insbesondere durch den ausbleibenden Fremdenverkehr, an den viele Branchen im Land gekoppelt sind. Und nun, da westliche Länder, aus denen normalerweise viele Touristen kommen, eine relativ hohe Impfquote erreicht haben, fehlt in Thailand die entsprechende Immunisierung, um eine Verbreitung des Virus zu einzudämmen.
Auch ein Tötungsdelikt auf der maßgeblich vom Tourismus abhängigen Insel Phuket wird in diesem Zusammenhang gesehen. Jüngst wurde eine 57-jährige Schweizer Staatsbürgerin von einem Kickboxer getötet, der sie offenbar hatte ausrauben wollen, woraufhin die Frau sich vergeblich zu wehren versuchte und dann erwürgt wurde. Der 27-Jährige, der die Tat gestanden hat, erklärte in seinem Geständnis, er habe in der Pandemie seinen Job verloren. Der Fall hat nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Thailand selbst Betroffenheit ausgelöst, da er über die Tötung hinaus für die schwierige Situation im Land steht.
Dabei steckt das Schwellenland
Thailand nicht erst seit der Pandemie in politischen und ökonomischen Schwierigkeiten. Mehrmals hat über die vergangenen Jahre das Militär die Macht an sich gerissen, nachdem Wahlen zu einem anderen Ergebnis gekommen waren. Dahinter steckt ein mehr als 15 Jahre alter Konflikt, der oft als „Rot gegen Gelb“zusammengefasst wird: Die „Roten“bestehen oft aus der ärmeren Landbevölkerung sowie der liberalen, urbanen Mittelschicht und fordern mehr Investitionen in Bildung und Sozialstaat. Die „Gelben“, vom Königshaus und dem Militär gestützt, interessieren sich eher für Privilegien der Aristokratie und Machterhalt.
Auch inmitten der Pandemie sind entsprechende Proteste wieder ausgebrochen. Zuletzt zeigte sich die Wut an den Exzessen des unbeliebten Königs Vajiralongkorn, als dieser aus seinem Domizil in Bayern nach Thailand reiste und Tausende gegen die Macht der Monarchie demonstrierten. Dies war auch deshalb bemerkenswert, weil ein Gesetz Majestätsbeleidigung verbietet und hart bestraft. Insbesondere junge Menschen, die sich oft mehr als ihre Eltern über das Internet und weniger über regierungsnahe Zeitungen informieren, wollen sich den Mund nicht mehr verbieten lassen.
Das äußert sich derzeit auch in den Straßenprotesten gegen die Corona-Politik. Wie bei den vorigen Protesten ist diesmal erneut der Dreifingergruß aus der Filmreihe „Tribute von Panem“zu sehen, der in mehreren ost- und südostasiatischen Ländern zu einem Symbol des Protests gegen autoritäre Regierungen geworden ist. Die Steine, die dieser Tage durch Bangkok fliegen, haben nicht nur mit Impfstoffmangel zu tun.