„Hören kann die Gesellschaft verändern“
Der 58-jährige Regisseur bringt einen Dokumentarfilm über den Musiker Matthew Herbert ins Kino. Der Produktion „A Symphony Of Noise“gelingt etwas Großartiges: Sie übersetzt Töne in Bilder.
DÜSSELDORF Der britische Produzent Matthew Herbert wurde in den späten 90er-Jahren mit Techno-Stücken bekannt. Titel wie „Deeper“und „See You On Monday“waren Clubhits und prägten eine Ära. Der heute 49-Jährige versucht sein Publikum aber auch dazu zu bringen, im Alltag aufmerksamer zu hören. In seinem Buch „Music. A Novel Through Sound“bringt er Musik durch reine Beschreibung zum Klingen. Er veröffentlichte das Album „One Pig“, auf dem er das Leben eines Schweins von der Geburt bis zum Verzehrtwerden akustisch dokumentiert. Herbert spürt den Geräuschen des Lebens nach und befragt sie über unsere Gegenwart. Er arbeitet die gesellschaftliche Dimension von Sound heraus.
Der Dokumentarfilmer Enrique Sánchez Lansch, dessen Produktion „Rhythm Is It“über die Berliner Philharmoniker und Sir Simon Rattle ein Publikumserfolg war, hat Matthew Herbert nun ein Porträt gewidmet. Er begleitet ihn im Studio, bei seinen Aufnahmen im Wald und im Ozean, bei Auftritten in Berghain und Elbphilharmonie und beim Frittieren einer Trompete aus Protest gegen den Brexit. „A Symphony Of Noise“zeigt einen politischen Künstler und Unruhestifter im besten Sinne, der die Wahrnehmung herausfordern und verändern möchte.
Warum widmen Sie sich Matthew Herbert?
LANSCH Er entführt uns in eine Welt des Hörens. Er macht unsere Ohren weit auf und zeigt uns, was es zu entdecken gibt.
Was fasziniert Sie an seiner Arbeit? SÁNCHEZ LANSCH Er ist eine tolle Persönlichkeit, die uns zeigt, dass Musik eine andere Dimension haben kann durch das Geräuschhafte. Durch alle Positionen, die jenseits des traditionellen Musikbegriffs liegen. Man hört viel in diesem Film. Film ist ja auch ein audiovisuelles Medium, das wird oft vergessen. Und wir haben die Möglichkeiten der Audiospur zu nutzen versucht. Es sollte auch ein Film über das Hören werden. Dieser Film soll Anreize geben, genau hinzuhören: Welches sozialpolitische Potenzial hat das? Kann man durch Hören in der Gesellschaft etwas bewegen?
Wie lange haben Sie an dem Film gearbeitet?
SÁNCHEZ LANSCH Mehr als zehn Jahre. Auch deshalb, weil ich mich lange damit beschäftigt habe, wie ich mich Matthew Herbert annähere. Ich will auf der einen Seite in das Werk und in den Kopf des Künstlers entführen.
Wie kommen seine Konzepte zustande? Was ist ihm wichtig? Und ein ganz wichtiger Eckpunkt war, dass er irgendwann ansprach, an einem Buch zu schreiben. Da dachte ich, es geht jetzt noch stärker darum, dass wir bei einem kreativen Moment dabei sein können.
Welches Konzept hatten sie, um musikalische Konzepte in Bilder zu übersetzen?
SÁNCHEZ LANSCH Wir haben uns zwei-, dreimal im Jahr getroffen, und jedes Mal hatte Herbert 20 Ideen für neue Projekte. Er wusste aber noch nicht, ob sie realisierbar, finanzierbar oder überhaupt machbar sind. Deshalb war es nicht möglich, den Film von Anfang bis Ende zu konzeptionieren. Aber dadurch wurde es zu einer spannenden Reise. So ein Künstler bleibt ja nicht stehen, sondern entwickelt sich. Daran teilzuhaben war sehr spannend. Die größte Herausforderung war, die Arbeit an dem Buch zu visualisieren. Einerseits Einblick in die Werkstatt zu geben. Zudem Passagen aus dem Buch zu haben. Und was gut funktioniert hat, war, Bilder zu finden, die eine musikalische Qualität haben, einen Rhythmus. Erst vom Stativ, und danach bin ich dazu übergegangen, mit entsprechenden Luftaufnahmen zu experimentieren. So hat es sich gefügt, dass die oft zusammengekommen sind mit gelesenen Passagen. Und mit Sounds, die von Matthew Herbert stammen.
Es gibt im Film viele Bilder von rauer englischer Landschaft, oft mit Seeblick. Weil sie so einen großen Einfluss auf Matthew Herberts Denken hat?
SÁNCHEZ LANSCH Ja, ganz sicher. Als ich ihn kennenlernte, war ich überrascht, wie und wo er wohnt. Ich dachte, jemand, der aus der Clubkultur kommt, wird die Metropole suchen. Aber er lebte in diesem kleinen Fischerstädtchen Whitstable in Kent. Ein Ort, der im Sommer sehr lebendig ist und außerhalb der Saison auf angenehmste Weise verschlafen. Herbert sucht Ruhe und Beschaulichkeit. Ein paar Jahre später ist er weiter ins Inland gezogen, aber nicht weit von der Küste. Dort lebt er im Grünen, auf einem Gelände, das mal ein Bauernhof war.
Wie sind sie so nah an ihn herangekommen? Oder besser: Wie sind Sie in seinen Kopf gekommen? SÁNCHEZ LANSCH Das hat viel mit Vertrauen und Verschwinden zu tun. Wir sind mal gemeinsam interviewt worden. Er hat da das für mich größte Kompliment gemacht. Er sagte: ,Enrique is a good listener.’ Das fand ich toll. Er hat gespürt: Ich komme und lasse mich auf ihn ein, und ich folge ihm auch, wenn er Umwege geht.
Herberts große Zeit als Techno-Produzent kommt nur am Rande vor. Ist das Absicht?
SÁNCHEZ LANSCH Das Filmmedium zwingt zur Verknappung. Also muss man sich für einen Aspekt entscheiden. Mir war klar, es gibt Leute die ihn in den 2000er-Jahren verfolgten und gerne mehr davon gehabt hätten. Aber ich habe gleich vom ersten Drehtag an gedacht, wir richten den Blick nach vorne, und das, wo Matthew Herbert herkommt, wird schon irgendwie spürbar sein. Ich dachte, es tut dem Film gut, sich zu konzentrieren. Trotzdem bildet er die Buntheit von Herberts Schaffens ab.
Kann Hören etwas bewegen in der Gesellschaft?
SÁNCHEZ LANSCH Ich habe es in diesen zehn Jahren erlebt, dass man durch Hören etwas ändern kann. Und ich denke, dass der Film eine Aufforderung ist, sich zumindest mit diesem Gedanken zu beschäftigen.