Fragwürdiges „Versuchskaninchen“
In Zeiten des Wahlkampfes taucht regelmäßig ein schönes Wort wieder auf – nämlich die Blöße, die sich niemand geben sollte, der in ein Amt strebt. Man schreibt nirgendwo ab und lacht auch nicht im falschen Moment. Und der im politbarometrischen Höhenrausch offenbar zur Unachtsamkeit neigende Olaf Scholz sollte Vokabeln rund ums Impfen weniger leichtfertig platzieren.
Vielleicht war ihm daran gelegen, die Strenge des Karl Lauterbach, der unentwegt seine Lieblingsfarbe Schwarz an die Wand malt, durch eine griffige Wortwahl freundlicher zu gestalten. Jedenfalls wollte er die Leute zum Impfen animieren und ließ das Wort „Versuchskaninchen“in die Debatte hoppeln; dies seien jene 50 Millionen bereits geimpfte Deutsche gewesen, die eine gewaltige und erfolgreiche Testmenge für jene darstellen, die bisher abgewartet haben.
Technisch ist Scholz mit der Formulierung nicht im Unrecht. Die Phase vier jeder Medikamenten- und Impfstoffstudie ist die fortlaufende Realzeit, in welcher das Mittel auf dem Markt ist; trotzdem halten die Fachleute weiterhin nach, ob die Produkte ihr Ziel erreichen, und kontrollieren neue, noch unbekannte Nebenwirkungen. Das nennt man Pharmakovigilanz.
Andererseits trägt die Debatte ums Impfen längst die Züge des Irrationalen und Glaubenskriegerischen – und in solch unentspannten Situationen sind legere, unscharfe, saloppe Formulierungen Wasser auf die Mühlen derer, denen an genauer Argumentation nicht gelegen ist. „Versuchskaninchen“war kein einziger Impfling in Deutschland. Jeder hat sich auf ein Mittel verlassen dürfen, das ordnungsgemäß getestet wurde.
Bei einem künftigen Kanzler möchten wir uns darauf verlassen dürfen, dass er keine Metapher auffährt, die ihr Ziel ins Gegenteil verkehrt. Das Wort vom „Versuchskaninchen“hat etwas Demotivierendes.
BERICHT STREIT UM KURS IN DER CORONA-SPÄTPHASE, POLITIK