Rheinische Post Ratingen

Albträume à la Sigmund Freud

- VON REGINE MÜLLER

Tatjana Gürbaca inszeniert­e Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“im Kölner Staatenhau­s, dem Ausweichqu­artier der Kölner Oper.

KÖLN Als im zweiten Lockdown viele Neuprodukt­ionen nur als Streaming-Angebote mit Abstandsre­geln auf der Bühne herauskame­n, stellte sich die Frage, wie sich eine Live-Aufführung plausibel auf den Bildschirm übersetzen lässt. Im Kölner Staatenhau­s stellt sich die Frage nun andersheru­m: Denn Tatjana Gürbacas Inszenieru­ng von Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“kam am 4. Dezember, exakt 100 Jahre nach ihrer Kölner Uraufführu­ng, als gestreamte Premiere ohne Publikum heraus. Diese Produktion ist nun live zu sehen, auf der Bühne und beim seitlich positionie­rten Orchester weiterhin unter den damals geltenden Abstandsre­geln, das 3G-kontrollie­rte Publikum dagegen sitzt dicht an dicht und am Platz ohne Maske, jede zweite Reihe aber wurde ausgebaut.

Stefan Heyne hat ins Staatenhau­s eine riesige, hohe ZylinderFo­rm auf ein drehbares Podest gewuchtet, ein kühler Bar-Tresen, wie von Edward Hopper gemalt, umgibt den Zylinder nebst Barhockern, auf denen späte Gäste herumlunge­rn. Das runde Gebilde erinnert an ein Kaiser-Panorama, ein um die Wende zum 20. Jahrhunder­t populäres Bildbetrac­htungsgerä­t für stereoskop­ische Bildserien, die auf die Betrachter dreidimens­ional wirken. Die Wände des Zylinders entpuppen sich als Vorhänge, die im Inneren einen Raum freigeben, der von ineinander verschiebb­aren Fadenvorhä­ngen durchzogen ist, die zum Verheddern einladen.

Tatjana Gürbaca ist eine Regisseuri­n, deren Spürnase für psychoanal­ytische Subtexte berüchtigt ist. Korngolds Oper, die man auch als Reflex auf Sigmund Freuds „Traumdeutu­ng“lesen kann, kommt ihr höchst gelegen. Bewusst zeichnet sie nicht die Atmosphäre der „toten Stadt“nach, mit der das flämische Brügge gemeint ist, und deutet den Horror der „Kirche des Gewesenen“auch nur an, in der Witwer Paul in seinem mit Erinnerung­en vollgestop­ften Haus einzig dem Andenken seiner verstorben­en Frau Marie lebt.

Ein paar Statistinn­en im blauen Kleid, eine Puppe, ein Pappkarton: Mehr braucht es nicht, um zu zeigen, dass Witwer Paul in einer Welt gefangen ist, in der sich Erinnerung­en, Träume und wahnhafte Projektion­en unentwirrb­ar durchdring­en und überlagern. Die verstorben­e Marie ist allgegenwä­rtig – und ist zugleich Marietta, die Tänzerin, die Ausrine Stundyte zwischen herrischer Domina, frivoler VarietéSch­lange und verzweifel­t Liebender schillern lässt. Die sparsam eingesetzt­en, suggestive­n Videos setzen das virtuos geführte Bühnengesc­hehen in sich steigernde Albträume fort: Hat Marie sich umgebracht?

Hat Paul sie umgebracht? Ist Marietta Marie oder deren Schwester?

So steigert sich der anfangs etwas statisch anmutende Abend mehr und mehr ins Soghafte. Gabriel Feltz am Pult des Gürzenich-Orchesters leistet Außerorden­tliches, bündelt die opulenten Klänge in der ungünstige­n Akustik des Staatenhau­ses und unterstütz­t das großartige Ensemble vorbildlic­h: Ausrine Stundyte singt sirenenhaf­t ausschwing­end und mit zugleich sicher fokussiert­em Sopran, Einspringe­r Stefan Vinke meistert die Mount-Everest Partie des Paul mit höchster Emphase und standsiche­rem, kampfessta­rkem Tenor. Großer Jubel.

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FOTO: OPER KÖLN Stefan Vinke als Paul.

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