Ein Weckruf für die Welt
Wird die Gesellschaft gespalten, hätten die Attentäter vom 11. September gewonnen.
Nun jährt sich der Terroranschlag auf das World Trade Center zum 20. Mal. Fast 3000 Menschen verloren damals ihr Leben. Einer, der das Attentat überlebte, ist ein jüdischer Geschäftsmann, der sein Büro im 85. Stock im Gebäude Eins des World Trade Centers hatte. Er erzählte später, dass er sich sicher war, während der Evakuierung des Gebäudes Schofar-Töne gehört zu haben. Das Schofar ist ein Widderhorn, das an den jüdischen Hohen Feiertagen geblasen wird. Das ist interessant, denn wir befinden uns gerade in der Zeit zwischen dem jüdischen Neujahrsfest und dem Versöhnungstag, also genau die Feiertage, an denen das Schofar geblasen wird. Die Töne sollen uns rufen, zur Einkehr in uns bewegen, aber auch erschüttern und aufrütteln.
Den Klang eines Schofars, der aufrüttelt – das bräuchten wir eigentlich für die ganze Welt. Wir leben in einem Zeitalter der Extreme und der Gegensätze. Einerseits werden die Fundamentalisten und Extremisten in den jeweiligen Religionen immer stärker. Die Taliban, die vor 20 Jahren den AlKaida-Terroristen Unterschlupf gewährten, sind wieder in Afghanistan an der Macht.
Andererseits werden unsere Gesellschaften immer säkularer und viele Menschen wenden sich in Europa von der Religion, egal welcher Art, ab. Oft genug geht das mit antireligiösen Ressentiments einher. Religiöse Normen und Werte werden als etwas Anachronistisches verstanden. Dabei sollten wir uns nicht aufspalten lassen. Damit hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht.
Alle Menschen guten Glaubens und guten Willens sollen in ihrer Vielfalt zusammenstehen für ein respektvolles Miteinander. Wir müssen einander wieder mehr zuhören und die Meinung des anderen aushalten, auch wenn sie sich fundamental von unserer unterscheidet. Wir brauchen eine konstruktive Streitkultur über die großen Fragen. Denn eines haben nichtreligiöse und religiöse Menschen gemeinsam: Es geht – wie jetzt zu den Hohen Feiertagen im Judentum – vor allem um uns und unser Miteinander.
Unser Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz. Er wechselt sich hier mit der Benediktinerin Philippa Rath, der evangelischen Pfarrerin Friederike Lambrich und dem Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide ab.