„Ich war für sie verschwunden“
Die Wuppertalerin Marie Stern ist mit 60 an Demenz erkrankt und 2020 gestorben. Ihre Frau Rike erzählt, wie ein erfülltes gemeinsames Leben trotzdem möglich ist.
WUPPERTAL Wenn Rike Stern über die Krankheit ihrer Frau Marie spricht, findet sie dafür lebendige Bilder. Man sah sie allmählich aus sich hinausgehen, erzählt Stern, konnte es in Maries Gesicht verfolgen, wie sich ihre Mimik veränderte, die Stimme, die Gestik. Irgendwann, lange vor ihrem Tod mit 67 Jahren im März 2020, sei sie in einen Raum hinübergeglitten jenseits all dessen, was früher für sie Bedeutung hatte. „Ich war für sie verschwunden“, sagt Rike Stern. Wie die 64-Jährige damit zurechtgekommen ist, dass die Demenz ihr die Partnerin genommen hat, darüber hat sie ein Buch geschrieben. Auch um zu zeigen, dass diese Krankheit nicht das Ende des gemeinsamen Weges bedeuten muss, sondern sich auch in dieser schwierigen Phase Erfüllung und Liebe finden lassen.
Bis dahin war es jedoch ein langer, teils beschwerlicher Erkenntnisprozess. Marie Stern erkrankte an frontotemporaler Demenz, einer seltenen Form der Demenz, die sich durch Persönlichkeitsveränderungen bemerkbar macht und anfangs schwer zu diagnostizieren ist. Wie bei Marie. Als Rike Stern erste Anzeichen bemerkte, schob sie die auf ihre eigene Überempfindlichkeit. Kennengelernt hatten sich die Frauen 2001 in Wuppertal, arbeiteten beide in der Krankenpflege, verliebten sich und gaben sich 2003 das Ja-Wort. Beide waren aktive Menschen, erzählt Rike Stern, reisten gerne mit ihrem Campingbus. Vor allem Marie sei begeisterungsfähig gewesen, manchmal chaotisch, aber kreativ, schrieb Clownsstücke, die beide aufführten. Die Demenz löschte all das aus, aber nicht auf einen Schlag.
Zunächst waren es nur Irritationen, minimale Abweichungen von der Norm, die Rike Stern bei ihrer Frau registrierte. Bei einem Telefongespräch mit ihr habe etwas gefehlt, ohne dass sie es hätte verorten können. „Ich habe mich gefragt, wo der Mensch ist, den ich kenne“, sagt Stern. Das habe sich aber wieder verloren. Dann, nach dem Tod von Maries Mutter 2013, häuften sich diese Signale. Sie habe Rike nicht mehr gefragt, wie ihr Tag war, habe sie abends nicht an der Tür begrüßt, nur noch Fernsehen geschaut, Serien, die sie vorher nie interessiert hatten. Ihr Wunsch, etwas zu unternehmen, schwand. „Es wurde spröde zwischen uns“, sagt Rike Stern: „Marie schwang nicht mehr mit.“
Nun verändern sich Beziehungen eben, langjährige zumal. Auch Rike Stern fragte sich, ob ihre Ehe in der Krise steckte. Oder ob ihre Frau auf dem Weg in eine Demenz sei. Denn Marie Sterns Vater war mit Ende 50 an frontotemporaler Demenz erkrankt und früh gestorben. Darauf angesprochen, wies Marie alles von sich, behauptete, alles sei normal. Ihre drei Kinder aber sorgten sich auch, sagten, sie würde abwesend wirken, unkonzentriert, teilnahmslos. Ein Alzheimer-Test bei der Hausärztin ergab keinen Befund. Von außen wirkte es so, als sei ich hypersensibel, sagt Rike Stern. Aber die Krankheit, die niemand diagnostizierte, schritt voran. Innerlich wurde es einsamer für Stern: „Marie war meine große Liebe, und nun erlebte ich sie nur noch als leere Hülle.“
Das Tückische an der frontotemporalen Demenz ist, dass die Patienten nur langsam abbauen und kein Gefühl für ihr Krankheitsbild haben. Marie war in körperlich guter Verfassung, fuhr noch bis 2017 selbst mit dem Auto, aber es fiel ihr zunehmend schwer, logische Zusammenhänge herzustellen, Sprache zu verstehen. Als die Diagnose 2017 dann endlich kam, sei sie, obwohl erwartet, geschockt gewesen, erzählt Rike Stern. Wusste sie doch nicht, wie sie das, was da auf sie zurollte, bewältigen sollte. Demenzkranke brauchen feste Abläufe, verstehen nicht, wenn davon abgewichen wird, agieren möglicherweise körperlich und werden dabei manchmal handgreiflich.
Rike Stern beschreibt den Umgang mit ihrer kranken Frau, etwa bei der Körperpflege oder beim Umziehen, als einen Tanz. Sie mussten lernen, sich im Gleichtakt zu bewegen, Marie wehrte sich oft körperlich, Rike ertrug es. „Das war heftig, schmerzhaft in jeder Hinsicht“, sagt sie, aber sie habe gelernt, diese Schläge nicht als Schläge zu verstehen, sondern als Emotion, die gesehen werden will. Insofern wurde ihr gemeinsames Leben ein Tanz. Marie kam ins Heim, Rike besuchte sie jeden Tag, ging mit ihr spazieren, pflegte Rituale wie gemeinsames Singen und Malen. Obwohl Marie kein Verständnis für ihre Krankheit gehabt habe, gab es Momente unwahrscheinlicher Klarsicht. Nach ihrem Namen gerufen, entgegnete sie nur lakonisch: „Da ist nichts.“Oder sagte seltsam hellsichtig zu ihrer Frau: „Ich habe nicht mehr viele Möglichkeiten.“
Trotzdem, und das ist Rike Sterns Botschaft, die sie verbreiten will, gab es eine tiefe Verbundenheit zwischen den beiden Frauen. Marie konnte lesen, verstand aber nichts; Rike ließ sie Texte von ihr an sie vorlesen, und es war, als würden sie miteinander sprechen. „So konnte ich einfach da sein und mit ihr teilen“, sagt sie, „auch wenn sie mich nicht mehr mit Namen angesprochen hat.“Zwei Jahre verbrachte Marie im Pflegeheim, bis zu ihrem Tod. Die Zeit sei intensiv und prägend für sie gewesen, erzählt Rike Stern. Weil sie eine tiefere Ebene in ihrer Beziehung erreicht hätten, irgendwann im Einklang mit den Dingen waren, mit der Krankheit, dem Leben. „Wir hatten alles verloren, aber etwas in der Tiefe gefunden“, sagt Rike Stern, die sich jetzt Marike nennt, um Marie auch sichtbar mit sich zu tragen.
„DeMens – Ein Weg ins Leben“heißt ihr Buch (bestellbar über www.demens-einweginsleben.de, 20 Euro), und der Rückgriff auf das Lateinische demens soll darauf verweisen, dass es etwas gibt jenseits des Verstandes, des Denkens, der Persönlichkeit. „Am Ende, ganz am Ende, wird das Meer in der Erinnerung blau sein“, lautet der Hochzeitsspruch des Paares. Rike Stern hatte ihn ihrer Frau im Heim aufgeschrieben. Am nächsten Tag fand sie den Spruch von Marie abgewandelt vor: „Am Ende wird das Meer in dir blau sein.“Die Erinnerung hatte sie gegen das Jetzt getauscht.