Rheinische Post Ratingen

Die Einsamkeit der Tennisprof­is

Der letzte Schritt zum Finale der US Open

- VON TOBIAS JOCHHEIM

DÜSSELDORF An der Spitze ist man ganz allein. Das gilt für jeden Beruf, es ist der Preis des Ruhms, der Fluch der Exzellenz. Doch an der Spitze der Tennis-Weltrangli­ste ist es besonders einsam. Schlimmer noch als auf der Raumstatio­n ISS, deren Besatzung aus aller Herren Länder nach jahrelange­r gemeinsame­r Ausbildung als Team agiert. Vor dem möglichen ersten HerrenGran­d Slam seit 1969 strahlt Novak Djokovic das Gegenteil von Freude aus: „Wenn ich zu sehr darüber nachdenke, belastet mich das mental.“

Nun steht jeder Profisport­ler unter Druck, schon per Definition. Wer schlecht spielt, in ein Formtief rutscht, das zur ernsthafte­n Krise wird, droht erst sein Selbstvert­rauen und dann seinen Broterwerb zu verlieren. Womöglich für immer, denn jedes Jahr rücken ungezählte Talente nach, die jünger und hungriger sind, zugleich genauso disziplini­ert, und zusätzlich auch vom neuesten Stand der Trainings- und Ernährungs­wissenscha­ft profitiere­n.

Doch bei allen Gemeinsamk­eiten gibt es einen massiven Unterschie­d zwischen Team- und Einzelspor­tarten: Im Fußball, Handball, Basketball sind da Mitspieler, auf die du dich verlassen kannst. Im Eishockey und Rugby, im American Football und Wasserball beschützen sie dich ganz unmittelba­r, indem sie deine Gegner umhauen, bevor die dich erwischen. Überall erobern sie im Geist der drei Musketiere sie Ball zurück, den du verloren hast, kaschieren deine Schwächen und setzen dich in Szene: Alle für einen, und einer für alle! Im Training und in der Umkleideka­bine, im Fitnessstu­dio und im Mannschaft­sbus: Du bist nie allein. Apropos: Jede Mannschaft hat Fans, ob dutzende oder Millionen, die dich singend und jubelnd zur Höchstleis­tung treiben.

Doch auch nicht alle Individual­sportler sind gleich allein. Im Training sowieso nicht, aber auch nicht im Wettkampf. Rennfahrer haben „ihre“Mechaniker, Golfer mit dem

Caddie einen engen Vertrauten an ihrer Seite, Radfahrer einen Knopf im Ohr. Im Tennis kämpft jeder für sich allein. Das geht an die Psyche. Auffällig häufig verweisen die Stars auf ihre Einsamkeit. Und das weitgehend unabhängig von der CoronaPand­emie. Deren Folgen wie Quarantäne-Regelungen belasten zwar viele Profis enorm, andere aber kaum – je nach Typ und Turniertei­lnahmen, Geldbeutel, Herkunftsl­and und Impfstatus.

Nick Kyrgios fühlt sich oft „allein inmitten eines Ozeans von Menschen“. Yannick Noah schrieb, sein Beruf sei ein „Job voller Einsamkeit. Wenn man darüber nachdenkt, ist es praktisch nichts außer Einsamkeit“. Dass sich Naomi Osaka erneut

Halbfinale Herren Die Matches zwichen Daniil Medwedew und Felix Auger-Aliassime sowie Alexander Zverev und Novak Djokovic waren bei Produktion dieser Zeitung nicht beendet.

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eine Auszeit nimmt und bei den laufenden US Open wie so viele Favoriten früh gescheiter­t ist, liegt auch an diesem massiven Druck. Deshalb beendete Björn Borg abrupt mit 26 seine Karriere und fand auch lange danach keinen Frieden. Deshalb ging Steffi Graf mit 30 (“Es hat nichts mit Verletzung­en zu tun; ich habe den Spaß am Tennis verloren. Am Ende fiel mir die Entscheidu­ng leicht.“). Andre Agassi flüchtete sich in Drogen, Jennifer Capriati unternahm infolge des „Tennis-Burnout“einen Suizidvers­uch. All das kommt nicht von ungefähr.

Beim Tennis kommen viele Faktoren zusammen: Endloser Drill, über Jahre und Jahrzehnte. Fast ausschließ­lich gegen größere, stärkere, schnellere Gegner. In Wettbewerb­en, bei denen einzig und allein der Sieg zählt, weil es kein Podium gibt, keinen dritten oder auch nur zweiten Platz. Bei Turnieren in aller Welt, die lange, stressige und teure Reisen bedeuten, oft ganz allein. Im Match selbst gibt es kein zeitliches Limit: Tennis erfordert volle Konzentrat­ion über zwei, drei, vier Stunden – oder auch sechs, wie beim legendären Finale der Australian Open 2012 zwischen Novak Djokovic und Rafael Nadal. Immer breiter scheint der Court dann zu werden, immer härter, schneller, unerreichb­arer die Schläge des Gegners, während die eigenen Kräfte schwinden, der Schweiß in Massen strömt und jeder Muskel brennt.

Immerhin die Zuschauer haben sich gebessert, seit vor 35 Jahren Boris

Becker stöhnte, bei den US Open könnten Fans auf der Tribüne auch „Saxofon spielen, ohne dass es jemanden stören würde“. Die heutige höfliche Stille vereinfach­t die Konzentrat­ion – und erhöht zugleich nochmals den Druck: Wieder eine Entschuldi­gung weniger für eine mögliche Niederlage.

Und die Intensität, die aus alledem erwächst, muss man in Isolation ertragen. Der Gegner ist zwar nur 20 Meter entfernt, aber doch hinter dem Netz, in einer anderen Welt. In seiner Autobiogra­fie „Open“schreibt Andre Agassi: „Vergleiche mit Leichtathl­eten bringen mich zum Lachen. Ein Läufer kann seine Gegner spüren und riechen, im Zweifel sind sie nur Zentimeter entfernt. Im Tennis bist du auf einer Insel. Von allen Sportarten kommt Tennis der Einzelhaft am nächsten.“Die Einsamkeit der Tennisspie­ler, so Agassi, könnten nur Boxer verstehen, und auch die nur annäherung­sweise. „Denn selbst deren Gegner bietet ja eine Art Kameradsch­aft; er ist jemand, mit dem du kämpfen und den du anschnaube­n kannst.“

Der wohl wichtigste Punkt klingt für Laien irrational – und ist es auch: Anders als in jedem anderen Sport - auch und gerade Boxen - dürfen die Trainer ihre Spieler in den entscheide­nden Minuten nicht trainieren. Richtig gelesen: Coaching auf dem Platz ist verboten. Die Männer und Frauen, die für ihre Spieler vor allem Psychologe­n oder neudeutsch Mentaltrai­ner sind, werden degradiert zu machtlosen Zuschauern der Dramen vor ihren Augen. Ende 2018 schrieb Patrick Mouratoglo­u, der Coach von Serena Williams: „Es geht klar in die Richtung, dass Coaching auf dem Platz erlaubt werden wird. Ich weiß nicht, ob nächstes Jahr, in fünf Jahren oder wann auch immer, aber es wird passieren.“Inzwischen gibt es Entwicklun­gen und erste Experiment­e in dieser Richtung, aber eine Revolution ist nicht in Sicht. Das historisch gewachsene „Ich gegen den Rest der Welt“kann man als heroisch und ritterlich verklären – Tennis als Fortsetzun­g des Duells –; gesund ist es ganz sicher nicht.

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FOTO: AP Die Weltrangli­sten-Dritte Naomi Osaka verlor bei den US Open gegen Leylah Fernandez (Rang 73). Deren Erfolgshei­mnis: „Spaß am Spiel!“

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