Er war in besten Händen bei Ehefrau und Muse Barbara, Sohn Tomasz – und einem ganzen Rudel Rauhaardackel.
Der Preis ist die Arbeitslosigkeit.
Bald beginnt er zu schreiben – und wird schnell vom Gelegenheitsjournalisten zum Vollzeit- und VollblutSchriftsteller, der alles aufsaugt, verbindet und weiterdenkt. Seine Schreibstube muss man sich vorstellen wie einen Balkon an einer gewaltigen Kreuzung von Mathematik und Religion, Soziologie und Juristerei, Philosophie und Ingenieurwesen, Astronomie und Ethik.
Sein Genre wird – obwohl er zeitlebens dagegen protestiert – die Science-Fiction im weitesten Sinne, weil er so am ehesten an den Zensoren vorbeikommt. Konventionen interessieren ihn nicht; so unbekümmert wie kühn verschmelzt er grundverschiedene Konstrukte wie Chaostheorie und Kriminalroman („Der Schnupfen“, 1976). Um seines Ideenreichtums Herr zu werden, schafft er kurzerhand komplett neue Genres wie fiktionale Rezension („Die vollkommene Leere“, „Eine Minute der Menschheit“) und fiktionales Vorwort („Imaginäre Größe“) zu eben nichtexistenten Werken. Und ganz nebenbei beschreibt er schon in den 50er-Jahren das Internet samt Suchmaschinen, E-Books und Hörbüchern, künstliche Intelligenzen, Virtuelle Realitäten und 3D-Druck. Seine fiktionalen Werke werden international gefragt, doch die philosophische Großtat „Summa Technologiae“(1964), unbescheiden angelehnt an Thomas von Aquin und Albertus Magnus, findet zu seinem Frust kein Echo.
Privat gibt sich der Mann mit dem IQ von angeblich 180 später mit Vergnügen dem PopcornKino hin, von James Bond bis King Kong. Seine jungenhafte Vorliebe für Marzipanschokolade und Halwa brockt ihm 2003 – eine Altersdiabetes ist schuld – einen Sturz samt Kopfwunde ein. Für kurze Zeit liegt er im Koma, gilt sogar als klinisch tot. „Ein sehr angenehmer Zustand“, berichtet er hernach.
Seinem gewaltigen Anspruch an Literatur wird er selbst gerecht: „Ein
Schriftsteller sollte nicht bloß mit einem Spiegel durch die Gegend rennen. Er sollte schreiben, was noch nie zuvor jemand gedacht hat.“
Scheinbar mühelos erschafft er Hunderte von Universen, die märchenhaft fantastisch sind, zugleich in sich stringent, dazu amüsant auf eine ganz eigene, satirisch-bittere Art. Wie kam er auf all die gläsernen Monde und eitlen Supercomputer, bizarren Bürokratien, grübelnden Berge und manipulativen Ozeane? Seine Antwort war zweigeteilt, und durchaus überraschend: Vor seinem geistigen Auge vorstellen könne er sich „rein gar nichts“, auf ihm selbst rätselhafte Weise habe er seine Schöpfungen aber gespürt und „in Worten durchwandert“. Und nach dem Niederschreiben stets viel, viel weggeworfen.
Wahrlich einmalige Literatur entstand im Zusammenspiel von Lems Hirn, das stets zu groß wirkte für den schmächtigen Mann in den seltsamen Pullovern, mit seiner Seele, die kaum kleiner war. Zudem war er in den besten Händen bei seiner Muse, Ehefrau Barbara, dem gemeinsamen Sohn Tomasz sowie einem ganzen Rudel Rauhaardackel.
Vielleicht am Erstaunlichsten bei alledem: Lems Werk wird eben nicht geschmälert, sondern veredelt dadurch, dass am Ende auch im bizarrsten Szenario meist die altbekannten menschlichen Schwächen triumphieren, ob im Kleinen oder im Großen, bis hin zu Genozid und Apokalypse: Unfähigkeit zur Kommunikation, ewige Kriegslust, Intoleranz, Gier – und Dummheit.
Apropos: „Ich hatte ja gar keine Vorstellung, wie viele Idioten es auf dieser Welt gibt – bis ich das Internet benutzte“, sagte Lem im hohen Alter. Selbst Wikipedia hielt er für aussichtslos. Unter dem Kamin des großen Zukunftspropheten verstaubten fünf elektrische Schreibmaschinen, weil er seiner mechanischen Remington nie untreu wurde.
Stanislaw Lem starb am 27. März 2006. Auf seinem Grabstein steht „Feci quod potui, faciant meliora potentes.“Zu Deutsch: „Ich habe getan, was ich konnte. Mögen die es besser machen, die dazu imstande sind.“Arroganter Sarkasmus oder echte Demutsgeste? Man weiß es nicht. Bloß bei Wikipedia lag der Großmeister der 1001 Ideen und scharfen Urteile nun wirklich falsch.