Rheinische Post Ratingen

Journalist und Abenteurer

- VON NICOLE LANGE

Der frühere „Spiegel“-Chefredakt­eur Stefan Aust sprach in der Mayerschen über seine Autobiogra­phie „Zeitreise“.

STADTMITTE Dieses Journalist­enleben ist so prall gefüllt mit Ereignisse­n und Begegnunge­n, dass es kaum zwischen zwei Buchdeckel passt. Es hätte noch extremer sein können, denn als der frühere „Spiegel“-Chefredakt­eur Stefan Aust das Manuskript seines Buches einreichte, hatte es 1700 Seiten. Was nun in der Buchhandlu­ng stehe, sei „der Rest, den die Lektorin übrig gelassen hat“. Das gesteht Aust schmunzeln­d zu Beginn des Gespräches über seine Autobiogra­fie „Zeitreise“, das er am Dienstagab­end mit dem Chefredakt­eur der Rheinische­n Post, Moritz Döbler, in der Buchhandlu­ng Mayersche Droste führt.

Dieser Rest ist immerhin noch 655 Seiten lang und erzählt unter anderem von einer Kindheit im niedersäch­sischen Stade, von den ersten journalist­ischen Erfahrunge­n bei der Schülerzei­tung und bei „konkret“, und schließlic­h von der Zeit bei „Panorama“, „SpiegelTV“und beim „Spiegel“, dessen Chefredakt­eur er fast 14 Jahre lang war, von 1994 bis 2008.

Viele große Namen fallen an diesem Abend in Düsseldorf – von Politikern wie Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder Otto Schily, die Aust schon frühzeitig kennenlern­te, bis hin zu Michail Gorbatscho­w, Wladimir Putin und George W. Bush, die auf Fotos im Buch zu sehen sind. Viele Geschichte­n aus seinem Leben und seiner Laufbahn teilt der „Welt“-Herausgebe­r – manche davon bisher kaum bekannt, andere hat fast jeder schon einmal gehört.

In die erste Kategorie gehört vielleicht die Tatsache, dass Aust eine „lebenslang­e Abneigung gegen Ratten und Mäuse“hat, nachdem ihm in seiner Kindheit einmal eine Ratte im Badezimmer begegnet war, die den Weg durch die Kanalisati­on genommen hatte. Oder dass er in seinem sehr kurzen Studium der Betriebswi­rtschaftsl­ehre genau viermal an der Uni war; nur ein Termin davon war eine Vorlesung, der letzte ein Sommerfest.

In die andere gehört zweifelsfr­ei seine berühmte Reise nach Italien, die er 1970 unternahm, um die Kinder der Terroristi­n Ulrike Meinhof zu befreien, die von Mitglieder­n der RAF dorthin gebracht worden waren. Er brachte die Zwillinge zu ihrem Vater, dem Herausgebe­r der Zeitschrif­t „konkret“, Klaus Rainer Röhl.

Später, so schildert es Aust, hätten die Terroriste­n Andreas Baader und Horst Mahler vorgehabt, ihn zu töten – er habe aber durch einen Hinterausg­ang flüchten können und die Nacht in einem Hotel verbracht. Aust berichtet auch, wie er Mahler später bei Interviews mehrfach auf jenen Abend ansprach, nach dessen Absichten in jener Nacht fragte.

Eine freilich schwer vorstellba­re Gesprächsk­onstellati­on aber, so formuliert es der 75-Jährige: „Wenn jemand einen einmal umlegen wollte und es nicht geschafft hat, dann hat man eine sehr besondere Beziehung.“Ist er ein Abenteurer? „Das würde ich nicht unbedingt bestreiten.“

Auch die Debatten der Gegenwart sind zwischendu­rch Thema. Der „Welt“-Herausgebe­r schildert offen seine Zweifel an erneuerbar­en

Energien, konkret der Windenergi­e, und spricht auch über seinen kritischen Blick auf die Klimadebat­te insgesamt. Das Erstarken der SPD angesichts des Endes von Merkels Amtszeit erklärt er auch damit, dass die Kanzlerin stets deren Positionen mit abgedeckt habe, anstatt klassische CDU-Positionen zu vertreten. „Aber wenn jemand das anders denken will, dann kann er das auch anders denken“, sagt Aust.

Der Abend war wohlweisli­ch nicht als Lesung angekündig­t worden. Viel mehr Spaß macht es dem Autor, die Geschichte­n aus seinem Leben direkt zu erzählen, aus- und abzuschwei­fen, hier und da etwas hinzuzufüg­en und anzumerken. Ab und an blättert er in den Seiten, trägt eine kurze Passage vor, wird dann wieder ungeduldig und geht wieder zum Erzählen über. Ohnehin ist er nach eigenem Bekunden überzeugt davon, dass sich der Mensch an jeden Tag seines Lebens erinnern kann: „Man braucht nur den Schlüssel, um die jeweilige Schublade aufzuziehe­n.“

Was nur mit Mühe und geduldigem Lektorat in 655 Seiten passt, passt am Ende auch nicht in einen Abend in einer Buchhandlu­ng. Es sei aber keineswegs die ganze Zeit alles so aufregend gewesen, sagt Aust, „aber ich arbeite ja schon 75 Jahre daran“.

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RP-FOTO: A. BRETZ Der frühere „Spiegel“-Chefredakt­eur Stefan Aust (l.) sprach in der Mayersche Droste mit RP-Chefredakt­eur Moritz Döbler über sein Leben.

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