Noch immer im Wald
Was halten die Umweltaktivisten vom Urteil zur Räumung? Und warum sind sie immer noch im Wald? Ein Besuch im Hambacher Forst.
KERPEN Mike stapft voran durch den Laubwald, eine Haselmaus saust über den Weg, und die Herbstsonne scheint durch die Blätter der Bäume. Mike, der in Wahrheit anders heißt, kennt hier im Hambacher Forst jeden Pfad. Seinen wahren Namen will er nicht nennen, nach seinem Alter gefragt, sagt er: „Ü 40.“Mike lebt seit Jahren hier in einem Baumhaus hoch über den Wipfeln. An Seilen klettert er abends hinauf. „Es wird anstrengender mit dem Alter“, sagt er lachend. „Man überlegt sich tagsüber zweimal, ob man nochmal hochklettert, um etwas zu holen.“
86 Baumhäuser sind bei einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens im Herbst 2018 bei der Räumung des Waldes zerstört worden. Danach kehrten die Aktivisten in den Hambacher Forst zurück und bauten drei Baumhaussiedlungen Stück für Stück wieder auf: „Heute sind es wieder so viele Häuser wie früher“, sagt Mike. Seit Anfang September gibt es nun ein Urteil des Verwaltungsgericht Köln, wonach die Räumung der Baumhäuser im rheinischen Braunkohlerevier rechtswidrig war. Ein ehemaliger Baumhausbewohner hatte geklagt. Die NRW-Landesregierung unter Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte die Stadt Kerpen und den
Kreis Düren damals zur Räumung angewiesen. Der Grund: Sicherheitsmängel. Das Gericht urteilte nun, die damals als Begründung genannten Bestimmungen zum Brandschutz seien nur vorgeschoben gewesen. Letztlich habe die Aktion der Entfernung von Braunkohlegegnern aus dem Wald gedient, wie das Kölner Verwaltungsgericht mitteilte. Der Energiekonzern RWE wollte damals im Hambacher Forst roden. Laschet will das Urteil jetzt prüfen lassen.
Mike und die anderen Waldbewohner haben die Nachricht zur Kenntnis genommen, aber einen Grund zum Feiern sehen sie darin nicht: „Es ändert ja nichts“, sagt Mike. „Ein Mensch ist damals gestorben, viele weitere wurden traumatisiert.“Eine Genugtuung könne das Urteil deshalb gar nicht sein. Die „Kiesautobahnen“, die für den Polizeieinsatz im Wald planiert wurden, sind immer noch zu sehen. „Da wächst erstmal nichts mehr“, sagt Mike.
Der Dokumentarfilmer Steffen Meyn war während der Räumung aus 20 Metern Höhe von einer Hängebrücke gestürzt und gestorben. An diesem Samstag werden seine Familie und seine Freunde sich dort treffen, wo der 27-Jährige ums Leben kam. „Das machen wir jedes Jahr“, sagt Mike. Sie haben in der ehemaligen Baumhaussiedlung Beachtown eine Gedenkstätte für den Freund aufgebaut, mit Kerzen und Fotos. Nur ein paar Seile baumeln noch von den Bäumen. „Niemand wollte dort ein neues Baumhaus bauen“, sagt Mike.
Bei der Räumung waren auch mehr als 70 Polizisten und drei RWE-Mitarbeiter verletzt worden. Mike sagt dazu: „Nach tagelangem Schlafentzug lagen auch bei uns die Nerven blank, und wir haben versucht, uns zu wehren. Es war wie Krieg.“Tausende solidarisierten sich damals aber mit den Aktivisten und demonstrierten für den Erhalt des Hambacher Forsts, der ohnehin nur noch ein Rest ist vom ehemals 5500 Hektar großen Waldgebiet. Die Baumhäuser wurden bundesweit bekannt und zu einem Symbol für Klimaschutz und den Ausstieg aus der Braunkohle-Verstromung.
Auch Anwohner helfen den Aktivisten. Die Wiese, auf dem ein Aktivisten-Camp steht, gehört einem Steuerberater aus Buir, einem Staddteil von Kerpen. Und eine 92-jährige Frau aus Morschenich überlässt den Waldschützern ihren Garten.
Sie ist eine der wenigen, die noch in dem Ort leben. Er sollte dem Tagebau weichen, bevor dann aber ein früherer Ausstieg aus der Braunkohle vereinbart wurde. Viele Bewohner waren da bereits umgesiedelt. Die Türen ihrer Häuser sind zugemauert, der Sportplatz ist mit Gras überwuchert. Hier wurde schon lange nicht mehr Fußball gespielt.
Mina (Name ebenfalls geändert) gehört zu den Aktivisten, die im Garten der Seniorin in Wohnwagen leben. Sie sagt, dass sie sich zwar über das Urteil freue, aber dass es eigentlich nur eine späte Bestätigung sei: „Es ist aber gut, dass das ganze Thema nun nochmal aufkommt, weil es zeigt, dass man uns mit vorgeschobenen Argumenten aus dem Wald drängen wollte.“Nicht alle, die im
Forst leben, seien nur wegen des Waldes da. „Sie wollen strukturell etwas ändern und haben eine antikapitalistische Einstellung.“Für Mike ist das Leben im Wald nicht nur ein Umweltschutzprojekt, sondern auch ein soziales Experiment: „Wie können wir anders und besser miteinander und mit der Natur umgehen? Wie verteilen wir Ressourcen? Wie können wir unabhängig von Konkurrenz und Hierarchien als Gemeinschaft auf Augenhöhe Projekte umsetzen?“Im Hambacher Forst gebe es genug Platz, all das auszuprobieren.
So wie das fast verlassene Dorf Morschenich bleibt nun auch der Hambacher Forst. Anfang des Jahres beschloss die Bundesregierung im Fahrplan für den Kohleausstieg, dass das Waldstück nicht durch RWE gerodet werden soll. Doch auch das ändert für die Aktivisten nicht viel. Sie bleiben. „Es stimmt ja nicht, dass der Wald gerettet ist“, sagt Mike. „Er wird nicht niedergesägt, aber er wird trotzdem kaputtgehen.“Im Tagebau wird weiter gebaggert, die bis zu 400 Meter tiefe Abbruchkante rückt immer näher und das abgepumpte Grundwasser fehlt dem Wald. „Im Grunde ist es eine kalte Rodung“, sagt Mike. Die Aktivisten fordern eine Wiederaufforstung der gerodeten Flächen bis zur Tagebaukante und eine Bewässerung der Waldränder. So lange bleiben sie auf jeden Fall. Denn was sei schon gewonnen, wenn der „Hambi“am Ende nur als Insel in einer Wüste zurückbleibe?, fragt Mike.