Rheinische Post Ratingen

Die Kraft der Zerstörung

- VON PHILIPP HOLSTEIN

LONDON Die Oxford Street in London im Jahr 2001. Durch die leeren Räume der kürzlich geschlosse­nen C&A-Filiale läuft ein gewaltiges Förderband, das jenen ähnelt, von denen man am Flughafen die Koffer pflückt. Hier fahren nun aber gelbe Plastikkis­ten im Kreis, darin befinden sich nach Material und Farbe sortierte Objekte aus dem Besitz von Michael Landy. Der Künstler ist damals Ende 30, und das hier ist seine neue Aktion: Er inventaris­iert alles, was er besitzt, und schreddert es dann. „Break Down“heißt die Mischung aus Performanc­e und Installati­on. 50.000 Menschen sehen innerhalb von zwei Wochen zu, wie 7227 Dinge zerstört werden.

Zwanzig Jahre ist das nun her, und es passiert nicht oft, dass sich Menschen an ein so lange zurücklieg­endes Kunst-Ereignis erinnern, von dem es keine Überbleibs­el gibt. Zwölf Mitarbeite­r in blauen Overalls zerlegten damals die Habseligke­iten. Über ihnen stand Landy auf einem Podest und regierte den Ameisenhau­fen des Rückbaus. Nichts blieb verschont. Der rote Saab 900 Turbo, eigene Kunst und die von Freunden, Familienfo­tos, Vitaminpil­len, Geburtsurk­unde, Katzenfutt­er, Zahnbürste und Liebesbrie­fe: Alles landete zu Granulat gehäckselt in großen Säcken.

Als Letztes kam die Plattensam­mlung an die Reihe: Kurz zuvor spielten die Mitarbeite­r noch „Love Will Tear Us Apart“von Joy Division und „Breaking Glass“von David Bowie in Dauer-Rotation. Dann herrschte Stille. Sechs Tonnen Abfall wurden schließlic­h auf einer Mülldeponi­e in Essex entsorgt. Zum Jubiläum fragte die englische Zeitung „Guardian“Landy jüngst, ob er die Sache denn nicht bereue. Der heute 58-Jährige schüttelte den Kopf und sagte, das er keinen Gegenstand vermisse. Im Gegenteil, die Sache habe ihm einen Neuanfang ermöglicht. Und vielleicht liegt genau darin die Faszinatio­n dieses zunächst destruktiv anmutenden Kunstwerks. Landy wurde in eine Working-Class-Familie geboren, der Vater arbeitete als Tunnelbaue­r. Landy studierte am renommiert­en Goldsmith-College und gehörte neben Tracey Emin und Damien Hirst zu der Gruppe der „Young British Artists“, die in den 1990er und frühen 2000er Jahren die Gesetze des Kunstmarkt­s auf den Kopf stellten. Gegenstand ihrer

Er schreddert­e alle 7227 Dinge, die er besaß: Vor 20 Jahren vernichtet­e der britische Künstler Michael Landy sein Hab und Gut. Die Aktion „Break Down“wurde zum Spektakel. Und stellte Fragen, die noch heute aktuell sind.

mitunter grellen und provoziere­nden Arbeiten waren oft Reflexione­n über soziale Klasse und über den Konsum und seine Auswirkung­en.

„Breaking Down“möchte Landy nun aber als leises Werk verstanden wissen. Im Grunde habe er seiner eigenen Beerdigung beigewohnt, sagte Landy dem „Guardian“. Einmal sei seine Mutter bei der Aktion aufgetauch­t. Sie schluchzte in einem fort, und er musste sie bitten zu gehen. Warum? Es habe sich für ihn angefühlt, als weinte sie an seinem Grab. Ein Gegenstand, der erst kurz vor knapp zerstört wurde, war ein alter Mantel aus Schaffell. Er gehörte Landys Vater. Die Mutter hatte ihn auf Kredit gekauft, kurz danach stürzte der Tunnel ein, in dem ihr Mann arbeitete. Landys Vater wurde an der Wirbelsäul­e verletzt und konnte den Mantel nun nicht mehr

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