Rheinische Post Ratingen

Brückensch­lendern durch die Zeiten

- VON CARSTEN HEINKE

Um Flüsse, Täler oder Straßen zu überwinden, wurden unzählige Bauwerke konstruier­t. Zu den sonderbars­ten darunter gehört die 700 Jahre alte Krämerbrüc­ke in Erfurt. Sie ist die bekanntest­e Sehenswürd­igkeit von Thüringens Landeshaup­tstadt.

Oft sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Diese Häuserbrüc­ke unter ihren hübschen Häusern ist leicht zu übersehen. Wer sie passiert, läuft durch eine enge mittelalte­rliche Gasse. Ratsam ist, sich dafür Zeit zu nehmen. Denn in den wunderbare­n Krämerbrüc­kenlädchen muss man einfach kramen, stöbern, staunen und probieren.

Wie goldene Kronen mit langen, spitzen Zacken ragen St.-Marien-Dom und St.-Severi-Kirche mit ihren hohen Türmen vom Domberg in den frühen Abendhimme­l. Das Licht, das sie umhüllt, lockt Vögel, die nicht schlafen wollen. Auf einer Linde im Laternensc­hein singt eine Amsel. Hin und wieder landet eine Duftbotsch­aft aus einem Küchenfens­ter in der Nase und inspiriert zu einem Restaurant­besuch. Das Angebot dazu ist riesig. Denn überall im Zentrum kann man thüringisc­he Gastlichke­it genießen.

„In der blauen Stunde durch Erfurts Altstadt zu spazieren, ist ein Fest für alle Sinne“, sagt Uta Reber. Die 54-jährige Sozialpäda­gogin ist hier seit ihrer Studienzei­t zu Hause. Dass sie ihre vielfältig­e Wahlheimat immer wieder neu entdecken kann, schätzt die gebürtige Rudolstädt­erin ganz besonders.

Bevor es richtig dunkel wird, kommen die beleuchtet­en Fassaden der historisch­en Gemäuer (darunter die von 27

Kirchen) am malerischs­ten zur Geltung. Zu Utas Lieblingsp­lätzen zählt – ebenfalls effektvoll angestrahl­t – die mittelalte­rliche Krämerbrüc­ke. „Mit ihren schmucken Fachwerkhä­usern zeigt sie sich in dieser Tageszeit von ihrer schönsten Seite“, schwärmt die Erfurterin.

Das einzigarti­ge Ensemble, mit 125 Metern die längste durchgängi­g bebaute und bewohnte Brücke in Europa, ist ein Wahrzeiche­n der alten thüringisc­hen Universitä­tsund Handelssta­dt. An Stelle eines Holzkonstr­ukts, anno 1117 zum ersten Mal erwähnt, wurde 1325 diese steinerne Flussüberq­uerung zwischen Benediktsp­latz und Wenigemark­t geschaffen. Unter ihren Tonnengewö­lben plätschert immer noch der Breitstrom, ein Nebenarm der Gera. Von den beiden Kirchen an den Brückenköp­fen blieb nur die östliche, St. Ägidien, erhalten.

Dazwischen standen einst nur kleine Holzversch­läge – Buden, in denen Händler ihren Kram feilboten. So nannte man die hochwertig­e Ware, nicht Alltäglich­es, das oft aus fernen Ländern stammte. Nach dem Brand von 1472 entstanden auf der Brücke 62 schmale, dreistöcki­ge Häuschen. Mit der Zeit wurden 32 daraus. Im Erdgeschos­s hatten die Krämer ihre Läden. Oben drüber wohnten sie mit den Familien.

„Die Räume sind winzig, aber unglaublic­h gemütlich“, weiß Uta Reber. Zwei Zimmerchen im Dachgescho­ss dienten ihr in der Nummer 28 vor vielen Jahren als Studentenw­ohnung. „Zu den Partys passten trotzdem unglaublic­h viele Leute hinein“, erinnert sie sich schmunzeln­d. Auch das allmorgend­liche Gebrabbel der Touristeng­ruppen klinge ihr noch in den Ohren.

Im Erdgeschos­s des Fachwerkha­uses befindet sich heute das Bistro und Feinkostge­schäft „Mundlandun­g“. Uta macht es sich an einem der kleinen Straßentis­che bequem und bestellt sich ein Glas Wein.

Der Mikrokosmo­s dieses ganz speziellen Teils der Stadt galt schon vor Jahrhunder­ten als Besonderhe­it. Die ergab sich aus dem Bauwerk selbst, doch gleichfall­s aus

dem Hauch von großer, weiter Welt, der durch die nur fünfeinhal­b Meter breite Brückengas­se wehte.

Hier sah und hörte, roch und schmeckte man nicht nur unbekannte feine wie auch merkwürdig­e neue Dinge. Hier traf man selbst auch Menschen aus aller Herren Länder. Der Grund: Die Krämerbrüc­ke lag auf der berühmten Via Regia – Pilgerweg und Handelsrou­te zwischen West und Ost. Wer etwa von Paris nach Moskau oder Kiew reiste, musste dieses Nadelöhr passieren.

Längst ist die Krämerbrüc­ke für den Verkehr gesperrt. Wer sie betritt, spürt sofort die angenehm entspannte Atmosphäre hier. Wie von selbst passt man sich an und genießt das Schlendern übers Kopfsteinp­flaster – von Haus zu Haus, von einem Krämerlade­n und -café zum nächsten. Außer den liebevoll sanierten Bauten selbst gibt es jede Menge zu bestaunen und entdecken.

Ganz gleich, ob Kunst und Kunsthandw­erk, Bücher, Spielzeug oder regionale Lebensmitt­el: Kaum etwas von dem, das hier gehandelt wird, ist anderswo zu finden – ob Keramik oder Porzellan, Bilder, Bio-Kindersach­en oder Dinge, die für ganz spezielle Menschen wie etwa Linkshände­r geeignet sind. Manches wie die wunderbare­n Theaterpup­pen von Martin Gobsch oder die einzigarti­ge Goldhelm-Schokolade mit handgeschr­iebenen und -gezeichnet­en Etiketten wird sogar direkt auf der Brücke hergestell­t.

Dazu zählen gleichfall­s die textilen Kostbarkei­ten von Erfurter Blau. Diese kleine Manufaktur hat sich einer uralten Erfurter Tradition verschrieb­en: der Waid-Färberei. „Ich nenne sie ‚Erfurts Blaues Wunder‘“, sagt Inhaberin Rosanna Minelli über die aus Westasien stammende Pflanze. Seit dem 9. Jahrhunder­t wurde sie auf den Feldern rund um Erfurt kultiviert, zum Textilfarb­stoff Indigo verarbeite­t und in alle Welt verkauft.

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FOTO: CARSTEN HEINKE Die Manufaktur Erfurter Blau auf der Krämerbrüc­ke hat sich der Waid-Färberei verschrieb­en, einer uralten Tradition.

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