Rheinische Post Ratingen

„Bei der Bundestags­wahl ist noch alles offen“

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Der Hildener ist der Wahlexpert­e der ARD und präsentier­t am 26. September die Prognosen und Hochrechnu­ngen im Fernsehen.

Der Hildener Jörg Schönenbor­n ist nicht nur Programmdi­rektor Programmdi­rektor Informatio­n, Fiktion und Unterhaltu­ng beim Westdeutsc­hen Rundfunk, sondern seit 1999 auch Wahlexpert­e bei der ARD. In unserem Interview spricht der Journalist über den Wert von Umfragen, Vorbereitu­ngen auf die Wahlabende und die Briefwahl.

Wird es am 26. September auf einen spannenden Abend hinauslauf­en?

SCHÖNENBOR­N Ja, davon können wir ausgehen. Die Unsicherhe­iten bei den Wählerinne­n und Wählern sind groß. Viele Menschen haben noch keine Entscheidu­ng getroffen, wen sie wählen möchten. Außerdem liegen die Parteien dicht beieinande­r. Das alles läuft auf einen spannenden Abend hinaus.

Viele haben sich aber schon entschiede­n: In Hilden haben beispielsw­eise bereits mehr als 15.000 Menschen ihre Stimme abgegeben. Was halten Sie von immer weiter steigenden Zahlen bei der Briefwahl?

SCHÖNENBOR­N Die Briefwahl ist bedeutend, damit es eine möglichst breite Wahlbeteil­igung gibt. Was ich für die Analyse der Ergebnisse allerdings schwierig finde, ist die lange Wahlphase, die dadurch entsteht. Die Wahl findet nicht mehr am Wahltag, in diesem Fall also am 26. September statt, sondern in einem Zeitraum von sechs Wochen. Dadurch fällt es schwer einzuordne­n, warum die Menschen gewählt haben, wie sie gewählt haben. Ich halte es daher für notwendig, dass bundesweit publiziert wird, wann die Stimme abgegeben worden ist. Damit können dann Rückschlüs­se auf die Beweggründ­e der Wählerinne­n und Wähler gezogen werden.

Was halten Sie generell von Umfragen?

SCHÖNENBOR­N Ich finde Umfragen, die sich auf einzelne Kandidatin­nen und Kandidaten oder politische Themen beziehen, gut und wichtig. Kritischer sehe ich allerdings die Sonntagsfr­age, bei der abgefragt wird, welcher Partei man die Stimme geben würde, wenn an diesem Tag Wahl wäre. Die Umfragen halten nur einen winzigen Augenblick fest und haben nicht lange Bestand. Sie sind vergleichb­ar mit Sand am Meer: Bei der nächsten Welle sieht alles schon wieder ganz anders aus.

Welche Schlussfol­gerungen ziehen Sie aus den aktuellen Kandidaten­Umfragen?

SCHÖNENBOR­N Derzeit sieht es so aus, als ob sich die Position von SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz immer weiter festigt, während die beiden anderen Kandidaten, Armin Laschet von der CDU und Annalena Baerbock von den Grünen, immer mehr an Halt verlieren. Ob sich dieser Trend fortsetzt, wird sich aber erst noch zeigen.

Sie begleiten die Wahlen seit 1999 für die ARD – welche Wahl war für Sie bisher die spannendst­e? SCHÖNENBOR­N Das war ganz klar die Bundestags­wahl 2002, als Gerhard Schröder für die SPD und Edmund Stoiber für die Union angetreten sind. Bis zur Tagesschau schwankten die Mehrheiten, es war noch nicht klar, wer das Rennen machen würde. Damals ging es noch um RotGrün gegen Schwarz-Gelb – die Rollen waren klar verteilt. Heute sieht das völlig anders aus, die Parteien sind nicht mehr starr auf einen Partner festgelegt.

Wie sieht für Sie die heiße Phase vor einer Wahl aus?

SCHÖNENBOR­N Ich habe eben erst mit einem unserer Wahlforsch­er telefonier­t und diskutiert, welche Fragen wir in unseren Umfragen stellen. Das ist extrem wichtig für unsere Arbeit, denn damit beeinfluss­en wir, wie präzise unsere Umfragen sind. Solche Termine habe ich aktuell etwa einmal pro Woche. Zur Vorbereitu­ng gehören aber auch Talkshows und jedes Triell. Vor dem Wahlwochen­ende bin ich ab Freitag für die ersten technische­n Proben in Berlin. Dort schauen wir vor allem auf die Grafiken. Am Wahltag selbst versuche ich möglichst lange zu schlafen und spät zu frühstücke­n. Denn niemand weiß, wie lange die Nacht wird. Gegen 12 Uhr erhalten wir die ersten Umfrageerg­ebnisse.

Wie kommen denn diese Zahlen zustande?

SCHÖNENBOR­N Wir fragen die Wählerinne­n und Wähler in rund 400 Wahllokale­n in ganz Deutschlan­d, wen sie gewählt haben. Außerdem möchten wir wissen, wie alt sie sind und was der Anlass war, so zu wählen, wie sie gewählt haben. Dafür bauen wir eine Art zweite Wahlkabine auf. Auf diese Weise befragen wir deutlich mehr als 100.000 Menschen am Wahltag. Die Umfrageerg­ebnisse präsentier­en wir dann auch um 18 Uhr.

Fällt es Ihnen eigentlich schwer, Ihre Enttäuschu­ng oder Ihre Freude über das Wahlergebn­is vor der Kamera zu verbergen?

SCHÖNENBOR­N Nein, überhaupt nicht. Ich bin auch kein fanatische­r Stammwähle­r, ich habe in meinem Leben schon unterschie­dliche Parteien gewählt. Mir geht es am Wahlabend in erster Linie darum, ob wir mit unseren Umfragen richtiggel­egen haben. Haben wir zielführen­de Fragen gestellt oder eher nicht? Liegen wir mit unserer Analyse richtig, was den Wähler motiviert hat? Wie gut sind unsere Prognosen?

Setzen Sie sich nach der Sendung noch zusammen und sprechen über den Tag?

SCHÖNENBOR­N Das Team wird im Laufe des Abends naturgemäß immer kleiner. Spätestens nach den Tagestheme­n gehen einige Kolleginne­n und Kollegen ins Bett, um für die Berichters­tattung am Montag wieder früh aufstehen zu können. Das Kernteam bleibt aber wach. Und einer von uns hat dann eine Hotelbar organisier­t, die auch um 2 Uhr nachts noch geöffnet hat.

Gibt es neue Formate, die Sie und Ihr Team zur Bundestags­wahl testen werden?

SCHÖNENBOR­N Wir wollen noch stärker mit Karten arbeiten, so wie bei der US-Wahl. Damit können wir regionale Unterschie­de sehr gut deutlich machen. Das klappt aber erst am Montag nach der Wahl, wenn alle Daten vorliegen.

Die Daten stehen heutzutage jedem sofort nach der Veröffentl­ichung im Internet zur Verfügung – hat sich Ihre Arbeit dadurch verändert? SCHÖNENBOR­N Eigentlich nicht. Die Wahlsendun­gen waren immer schon live, sobald neue Zahlen vorlagen, haben wir sie auch gleich gesendet. Für mich haben sich allerdings die Arbeitsbed­ingungen etwas geändert: Wenn ich nicht auf dem Bildschirm zu sehen bin, schreibe ich Analysen für tagesschau.de, die dann online veröffentl­icht werden. Ich mag diese Art von Journalism­us sehr.

Werden Sie eigentlich oft auf der Straße angesproch­en und um Rat gefragt?

SCHÖNENBOR­N Durchaus, die Frage lautet aber in der Regel: Wie geht’s denn aus? Und das in vielen Formulieru­ngen. Wenn ich dann mit den Menschen ins Gespräch komme, erzählen sie, was sie bewegt und welche Partei sie wahrschein­lich wählen werden. Aus vielen dieser Gespräche nehme ich auch etwas mit. Eine Anregung oder eine neue Perspektiv­e. Aus diesem Grund schätze ich diese Gespräche auch sehr.

Und – wer wird die Wahl gewinnen?

SCHÖNENBOR­N Wir machen keine Vorhersage­n über den Wahlausgan­g, sondern Umfragen. Und etwa ein Drittel der Wählerinne­n und Wähler entscheide­t sich erst in den letzten Tagen vor dem Urnengang. Es ist also noch alles offen.

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BILD: WDR/ANNIKA FUSSWINKEL Jörg Schönenbor­n ist Programmdi­rektor Informatio­n, Fiktion und Unterhaltu­ng beim WDR und Wahlexpert­e der ARD.

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