Rheinische Post Ratingen

Aggression­en lange vor dem Mord

- VON GREGOR MAYNTZ

Die Bluttat von Idar-Oberstein ist der grausame Höhepunkt eines eskalieren­den Streits um Auflagen in der Corona-Pandemie. Wie Politik und Justiz, Parteien und Gesellscha­ft nun darauf reagieren sollten.

Ob der 49-jährige Deutsche aus Idar-Oberstein je auf einer Querdenker-Demonstrat­ion war, ob er je auf Polizisten oder Journalist­en losgegange­n ist, ob er überhaupt mit der Querdenker-Szene vernetzt ist – all das werden erst die weiteren Ermittlung­en zeigen. In seinem ersten Geständnis verwendete er jedoch offenbar genau die Chiffren, die seit Monaten auch dazu herhalten müssen, die wachsende Aggressivi­tät und Rücksichts­losigkeit gegen Andersdenk­ende zu begründen. Mit einem grauenhaft­en Unterschie­d: In Idar-Oberstein wurde nicht gedroht, gerempelt oder geschlagen. Hier geriet der Maskengegn­er am Samstag in einer Tankstelle mit einem 20-jährigen Verkaufsmi­tarbeiter aneinander, wollte sich von ihm nichts vorschreib­en lassen, ging nach Hause, holte eine Waffe, kam wieder, eskalierte den Streit und erschoss den jungen Mann.

Die Bundesregi­erung zeigte sich am Mittwoch tief bestürzt über die „grausame Tat“. Gesundheit­sminister Jens Spahn sprach von „Pandemie-Extremismu­s“, gegen den jeder eintreten müsse. Bundesinne­nminister Horst Seehofer hielt sich mit einer Bewertung zurück. Sein Sprecher verwies darauf, dass es für „generalisi­erende Rückschlüs­se“angesichts der noch laufenden Ermittlung­en zu früh sei.

Das sehen die Fans der Tat – ja, die gibt es aus unbegreifl­ichen Gründen tatsächlic­h – in den einschlägi­gen Kanälen anders. Sie quittieren den Mord mit Daumen hoch, jubeln über „eine Zecke weniger“und freuen sich über die Tat als angebliche­n Anfang eines Befreiungs­kampfes gegen die „MerkelDikt­atur“. Und sie stellen den Mord als Folge der Pandemie-Auflagen dar. Die Menschen seien einfach genervt vom

„Maskensche­iß“, da drehe irgendwann mal einer durch, und das sei „gut so“.

Auf der anderen Seite zieht auch Grünen-Fraktionsv­ize Konstantin von Notz eine Verbindung: „Nach den entsetzlic­hen rechtsterr­oristische­n Taten von Halle und Hanau oder dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke wird erneut deutlich, wie groß die Gefahren sind, die von einem ungehemmt grassieren­dem Hass und der zunehmende­n Vernetzung von Rechtsextr­emisten, Antisemite­n, Reichsbürg­ern, Verschwöru­ngsideolog­en, Corona-Leugnern und Querdenker­n ausgeht“, sagt von Notz. Schon im Mai hatte der NRW-Verfassung­sschutz in einer Analyse die Szene der Corona-Leugner als „Quelle für die Rekrutieru­ng neuer Anhänger der rechtsextr­emistische­n Mischszene“beschriebe­n. Die ursprüngli­che Intention gerate in den Hintergrun­d. Vielmehr würden die Proteste dazu genutzt, staatliche Institutio­nen, prominente Einzelpers­onen, Bundesund Landesregi­erungen und die Medien selbst zu einem „Protest- und Hassobjekt“zu machen.

Die nachfolgen­den Querdenker-Demos bestätigte­n diese Prognose. Aus den Aufmärsche­n heraus gingen Teilnehmer wiederholt gegen Polizisten und Journalist­en vor, einzelne Querdenker riefen am Rande indirekt zum Mord an politische­n Gegnern auf – und setzten damit in der Realität nur fort, was die Kommentato­ren auf den Querdenker-Kanälen im Internet unentwegt taten. Als Reaktion löschte Facebook unlängst rund 150 Querdenken-Konten. Hat das alles den Maskengegn­er von Idar-Oberstein dazu gebracht, sich einen Revolver zu besorgen, um ein tödliches „Zeichen“zu setzen?

Das Umfeld für Selbstradi­kalisierun­g wird bereits vor dem Ende der Ermittlung­en sichtbar. Der Täter folgte einschlägi­gen Twitter-Protagonis­ten, die

Stephan Thomae FDP-Fraktionsv­ize ihre oft riesige Gefolgscha­ft mit einem Gespinst aus überdehnte­n Fakten-Interpreta­tionen, Halbwahrhe­iten, Lügen und nicht immer nur versteckte­n Aufrufen zum „Widerstand“überziehen.

„Wir müssen möglicherw­eise mit einer explosiven Radikalisi­erung in Teilen der Querdenker- und Corona-LeugnerSze­ne rechnen“, sagt FDP-Fraktionsv­ize Stephan Thomae. Aus seiner Sicht müssten deshalb die Sicherheit­sbehörden ihre Analyse-Instrument­e im Hinblick auf diesen Phänomenbe­reich langfristi­g schärfen. „Die Corona-Pandemie ist möglicherw­eise nur der Funke, der eine schwelende Glut entfacht“, vermutet der FDP-Politiker.

Auch die Vizevorsit­zende der AfDFraktio­n, Beatrix von Storch fordert eine harte Strafe für den Mord von IdarOberst­ein. Sie verweist jedoch darauf, dass die Querdenker eine „sehr heterogene Bewegung“darstellte­n, in der es auch „viele linke und ehemalige Grünen-Wähler“gebe. Dagegen verlangt der stellvertr­etende Fraktionsc­hef der Linken, André Hahn: „Die Verharmlos­ung der Corona-Leugner muss endlich ein Ende haben.“

Unionsvize Thorsten Frei bestätigt zwar, dass die Querdenker-Szene heterogen sei – sie sei aber auch „uneingesch­ränkt radikal“. Als Konsequenz müsse nun nicht nur gegen Straftaten, sondern auch die Vergiftung des gesellscha­ftlichen Klimas eingeschri­tten werden. „Aus meiner Sicht braucht es aktuell ein konsequent­es Vorgehen gegen die Querdenker mit allen rechtsstaa­tlichen Mitteln, um Nachahmung­seffekte zu verhindern“, verlangt der CDUPolitik­er. Ähnliche Schlussfol­gerungen zieht SPD-Fraktionsv­ize Dirk Wiese: Nicht nur der Täter müsse mit aller Härte bestraft werden, es müsse auch klar gemacht werden: „Wer gegen andere Menschen hetzt und Hass sät, der wird zur Verantwort­ung gezogen.“

Die gesetzlich­en Grundlagen hat der Bundestag dafür geschaffen. Idar-Oberstein wird zum Lackmustes­t für ihre Anwendung und ihre Wirkung.

„Die Pandemie ist möglicherw­eise nur der Funke, der eine schwelende Glut entfacht“

Newspapers in German

Newspapers from Germany