Aggressionen lange vor dem Mord
Die Bluttat von Idar-Oberstein ist der grausame Höhepunkt eines eskalierenden Streits um Auflagen in der Corona-Pandemie. Wie Politik und Justiz, Parteien und Gesellschaft nun darauf reagieren sollten.
Ob der 49-jährige Deutsche aus Idar-Oberstein je auf einer Querdenker-Demonstration war, ob er je auf Polizisten oder Journalisten losgegangen ist, ob er überhaupt mit der Querdenker-Szene vernetzt ist – all das werden erst die weiteren Ermittlungen zeigen. In seinem ersten Geständnis verwendete er jedoch offenbar genau die Chiffren, die seit Monaten auch dazu herhalten müssen, die wachsende Aggressivität und Rücksichtslosigkeit gegen Andersdenkende zu begründen. Mit einem grauenhaften Unterschied: In Idar-Oberstein wurde nicht gedroht, gerempelt oder geschlagen. Hier geriet der Maskengegner am Samstag in einer Tankstelle mit einem 20-jährigen Verkaufsmitarbeiter aneinander, wollte sich von ihm nichts vorschreiben lassen, ging nach Hause, holte eine Waffe, kam wieder, eskalierte den Streit und erschoss den jungen Mann.
Die Bundesregierung zeigte sich am Mittwoch tief bestürzt über die „grausame Tat“. Gesundheitsminister Jens Spahn sprach von „Pandemie-Extremismus“, gegen den jeder eintreten müsse. Bundesinnenminister Horst Seehofer hielt sich mit einer Bewertung zurück. Sein Sprecher verwies darauf, dass es für „generalisierende Rückschlüsse“angesichts der noch laufenden Ermittlungen zu früh sei.
Das sehen die Fans der Tat – ja, die gibt es aus unbegreiflichen Gründen tatsächlich – in den einschlägigen Kanälen anders. Sie quittieren den Mord mit Daumen hoch, jubeln über „eine Zecke weniger“und freuen sich über die Tat als angeblichen Anfang eines Befreiungskampfes gegen die „MerkelDiktatur“. Und sie stellen den Mord als Folge der Pandemie-Auflagen dar. Die Menschen seien einfach genervt vom
„Maskenscheiß“, da drehe irgendwann mal einer durch, und das sei „gut so“.
Auf der anderen Seite zieht auch Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz eine Verbindung: „Nach den entsetzlichen rechtsterroristischen Taten von Halle und Hanau oder dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke wird erneut deutlich, wie groß die Gefahren sind, die von einem ungehemmt grassierendem Hass und der zunehmenden Vernetzung von Rechtsextremisten, Antisemiten, Reichsbürgern, Verschwörungsideologen, Corona-Leugnern und Querdenkern ausgeht“, sagt von Notz. Schon im Mai hatte der NRW-Verfassungsschutz in einer Analyse die Szene der Corona-Leugner als „Quelle für die Rekrutierung neuer Anhänger der rechtsextremistischen Mischszene“beschrieben. Die ursprüngliche Intention gerate in den Hintergrund. Vielmehr würden die Proteste dazu genutzt, staatliche Institutionen, prominente Einzelpersonen, Bundesund Landesregierungen und die Medien selbst zu einem „Protest- und Hassobjekt“zu machen.
Die nachfolgenden Querdenker-Demos bestätigten diese Prognose. Aus den Aufmärschen heraus gingen Teilnehmer wiederholt gegen Polizisten und Journalisten vor, einzelne Querdenker riefen am Rande indirekt zum Mord an politischen Gegnern auf – und setzten damit in der Realität nur fort, was die Kommentatoren auf den Querdenker-Kanälen im Internet unentwegt taten. Als Reaktion löschte Facebook unlängst rund 150 Querdenken-Konten. Hat das alles den Maskengegner von Idar-Oberstein dazu gebracht, sich einen Revolver zu besorgen, um ein tödliches „Zeichen“zu setzen?
Das Umfeld für Selbstradikalisierung wird bereits vor dem Ende der Ermittlungen sichtbar. Der Täter folgte einschlägigen Twitter-Protagonisten, die
Stephan Thomae FDP-Fraktionsvize ihre oft riesige Gefolgschaft mit einem Gespinst aus überdehnten Fakten-Interpretationen, Halbwahrheiten, Lügen und nicht immer nur versteckten Aufrufen zum „Widerstand“überziehen.
„Wir müssen möglicherweise mit einer explosiven Radikalisierung in Teilen der Querdenker- und Corona-LeugnerSzene rechnen“, sagt FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae. Aus seiner Sicht müssten deshalb die Sicherheitsbehörden ihre Analyse-Instrumente im Hinblick auf diesen Phänomenbereich langfristig schärfen. „Die Corona-Pandemie ist möglicherweise nur der Funke, der eine schwelende Glut entfacht“, vermutet der FDP-Politiker.
Auch die Vizevorsitzende der AfDFraktion, Beatrix von Storch fordert eine harte Strafe für den Mord von IdarOberstein. Sie verweist jedoch darauf, dass die Querdenker eine „sehr heterogene Bewegung“darstellten, in der es auch „viele linke und ehemalige Grünen-Wähler“gebe. Dagegen verlangt der stellvertretende Fraktionschef der Linken, André Hahn: „Die Verharmlosung der Corona-Leugner muss endlich ein Ende haben.“
Unionsvize Thorsten Frei bestätigt zwar, dass die Querdenker-Szene heterogen sei – sie sei aber auch „uneingeschränkt radikal“. Als Konsequenz müsse nun nicht nur gegen Straftaten, sondern auch die Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas eingeschritten werden. „Aus meiner Sicht braucht es aktuell ein konsequentes Vorgehen gegen die Querdenker mit allen rechtsstaatlichen Mitteln, um Nachahmungseffekte zu verhindern“, verlangt der CDUPolitiker. Ähnliche Schlussfolgerungen zieht SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese: Nicht nur der Täter müsse mit aller Härte bestraft werden, es müsse auch klar gemacht werden: „Wer gegen andere Menschen hetzt und Hass sät, der wird zur Verantwortung gezogen.“
Die gesetzlichen Grundlagen hat der Bundestag dafür geschaffen. Idar-Oberstein wird zum Lackmustest für ihre Anwendung und ihre Wirkung.
„Die Pandemie ist möglicherweise nur der Funke, der eine schwelende Glut entfacht“