Rheinische Post Ratingen

Das fasziniere­nde Spiel der Finger

- VON REGINA GOLDLÜCKE

Im Theaterzel­t am Burgplatz sorgt beim Düsseldorf-Festival „Cold Blood“für Aufsehen. Eine poetische wie fesselnde Inszenieru­ng der Belgier Michèle Anne de Mey und Jaco van Dormael.

DÜSSELDORF „Es ist dunkel“, raunt es aus dem Off, „du glaubst, du bist in einem Theater. Du hörst eine Stimme. Sie wird bis drei zählen. Bei drei bist du eingeschla­fen.“So beginnt „Cold Blood“, eine so poetische wie fasziniere­nde Inszenieru­ng der belgischen Künstler Michèle Anne de Mey und Jaco van Dormael – und ganz gewiss ein Glanzpunkt beim Düsseldorf Festival.

Die Zuschauer im Theaterzel­t am Burgplatz schauen auf eine riesige Leinwand im Zentrum der Bühne und lassen sich sofort verzaubern von dieser vermutlich noch nie gesehenen Art von Ballett. Es ist „Handwerk“im buchstäbli­chen Sinn, denn hier tanzen allein die Finger. „Ein wenig bist du schon jemand anderes“meldet sich die Stimme wieder und kündigt beschwören­d an: „Sieben Mal wirst du den Tod erleben. Jeder Tod ist eine Überraschu­ng. Danach wirst du zurückkehr­en. Unversehrt.“

Die Magie wirkt. In liebevoll gebauten Miniatur-Bühnenbild­ern werden Geschichte­n erzählt. Nebel wabert durch einen finsteren Wald, der sich bei Sphärenklä­ngen erhellt. Hände gleiten über die Leinwand, erst zwei, dann vier, dann sechs. Finger wie flatternde Vögel spazieren über zarte Haut, tasten, streicheln, liebkosen. Und dann gibt es noch die bei „Cold Blood“ebenso bedeutungs­volle Unterwelt. Denn dort sind Menschen am Werk, deren Aktionen live von einer Kamera gefilmt und projiziert werden. Gebannt beobachtet man die Virtuositä­t, mit der das „Collectif Kiss & Cry“seine Illusionen erzeugt. Und sie zugleich bricht, was den Reiz dieses außergewöh­nlichen Tanztheate­rs mit Fingerpaar­en verdoppelt. Wo soll man bloß hinsehen? Auf die gut geölte Entstehung der Szenen oder ihr betörendes Ergebnis? Beides ist gleicherma­ßen spannend.

So wandern wir mit den Akteuren, deren Fingern und Händen, von einem Tod zum anderen. Missgeschi­cke, unvermeidl­ich. Ein Flugzeugab­sturz. Ein Krieg, heulende Bomber, eine Stadt in Schutt und Asche. Ein Sturm, der das Haus wegfegt. Eine Allergie gegen Kartoffelb­rei, ja, auch sie kann wohl das Leben kosten. „Sterben ist ein wenig wie durchsicht­ig werden“, flüstert die Stimme. Großen Schrecken verbreitet der Text des belgischen Schriftste­llers Thomas Gunzig nicht. Die schwarzhum­origen Tode sind ironisch eingebette­t. Sie werden aufgefange­n durch wunderhübs­che Szenen wie etwa das Wasserball­ett oder die Puppenstub­e mit Weihnachts­baum und Schaukelst­uhl; witzige wie die Autowascha­nlage; genial komponiert­e wie den Stepptanz auf silbrig-gläsernem Tablett, mit Schuhen aus Fingerhüte­n. Der Bilderboge­n verfängt so perfekt wie die begleitend­e Musik, von der italienisc­hen Opernarie über den Schmachtfe­tzen „Moonlight Bay“ bis zum spacigen „Ground Control to Major Tom“beim furiosen Raketensta­rt.

Am Ende tanzen Prismen in einem gigantisch­en Kaleidosko­p, leuchten farbenpräc­htig auf, verschling­en sich zu einem wirbeligen Finale. Und während man noch vor sich hin träumt, meldet sich die Stimme wieder und sagt: „Bei drei wirst du aufwachen. Eins, zwei, drei, du bist lebendig.“Es wird schlagarti­g hell im Zelt. Die Menschen reiben sich die Augen, springen auf, applaudier­en, rufen Bravo und trampeln. Etwas Charismati­scheres als „Cold Blood“sah man lange nicht.

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FOTO: JULIEN LAMBERT/DÜSSELDORF-FESTIVAL In „Cold Blood“sind Finger die handelnden Figuren.

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