Rheinische Post Ratingen

Abi-Stoff im Kino

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Regisseur Philipp Stölzl bringt Stefan Zweigs berühmtest­en Text „Die Schachnove­lle“auf die Leinwand. Die Produktion gehört in die Reihe aktueller Literaturv­erfilmunge­n.

Das Kinoprogra­mm liest sich derzeit wie der Lehrplan eines Deutsch-Leistungsk­urses. Überall Klassiker: Dominik Graf bringt eine Adaption von Erich Kästners „Fabian“(1931) auf die Leinwand, Detlev Buck nimmt sich des „Felix Krull“(1954) von Thomas Mann an. Und nun folgt Philipp Stölzl mit seiner Sicht auf Stefan Zweigs „Schachnove­lle“(1942). Warum tun die das?

Manchmal, wie im Falle von Grafs „Fabian“, entsteht ein Kunstwerk aus eigenem Recht. Eine Geschichte für die Gegenwart, die so neu und originell erzählt wird, dass sich die Zeiten darin überlagern und durchlässi­g werden. Graf macht keinen Kostümfilm, er treibt die Frage nach der Aktualität der Vorlage aber auch nicht so weit, dass er sie eins zu eins ins Heute überträgt. Sein „Fabian“ist ein Beispiel dafür, wie ein Film unabhängig vom Stoff betrachtet werden kann, aus dem er schöpft. Und wie er doch Lust macht auf seine Inspiratio­nsquelle.

Von Detlev Bucks Thomas-MannBebild­erung kann man all das nicht unbedingt sagen. Die Produktion ist ein Kostümdram­a, das den zugrundeli­egenden Text mehr oder weniger abarbeitet und sich dabei die eine oder andere Freiheit nimmt. Während Graf aus dem „Fabian“etwas Eigenes macht, stellt sich Buck in den Dienst des „Krull“. Obwohl der gar nicht darum gebeten hatte.

Die neue „Schachnove­lle“liegt nun genau zwischen diesen Polen. Es geht darin um Dr. Josef Bartok, der nicht wahrhaben möchte, dass der Anschluss Österreich­s kurz bevorsteht. Er schlägt die Möglichkei­t zur Flucht aus und wird von der Gestapo in einem Hotel gefangenge­nommen. Monatelang vegetiert er dort in völliger Isolation und ohne jegliche Ablenkung. Irgendwann gelingt es ihm, ein Buch zu stehlen; statt der erhofften Weltlitera­tur handelt es sich um ein Schachrepe­titorium, das 150 Meisterpar­tien versammelt. Bartok bastelt Schachfigu­ren aus Brotresten und spielt die Partien auf den Fliesen seines Bads nach.

Philipp Stölzl, der zuletzt das UdoJürgens-Musical „Ich war noch niemals in New York“ins Kino gebracht hat, inszeniert den ersten Teil der Handlung weitgehend konvention­ell

Stölzl bricht den Text der Vorlage auf und arbeitet den bitteren Kern heraus

und opulent wie eine vor allem an Ausstattun­g interessie­rte Literaturv­erfilmung. Allmählich bricht er den perlenden und großartig komponiert­en Text der Vorlage jedoch auf und arbeitet den bitteren Kern heraus. Er benutzt seinen großartige­n Hauptdarst­eller Oliver Masucci sozusagen als Versuchska­ninchen: An ihm protokolli­ert er die Stationen einer allmählich­en Bewusstsei­nsauflösun­g. Das Sounddesig­n bildet den Lärm ab, der inmitten der Stille im Kopf des Gefangenen tobt. Eine Uhr läuft rückwärts, eine Birne flackert immerzu. Die Szenerie wird immer kantiger, kubistisch­er, die Wände der Räume stürzen aufeinande­r zu.

Josef Bartok wird irgendwann entlassen, er leidet aber an einer – wie es bei Zweig heißt – „Schachverg­iftung“, einer Persönlich­keitsspalt­ung, die durch das Spielen gegen sich selbst hervorgeru­fen wurde. Auf einem Passagiers­chiff kommt es dann zur großen Partie. Der Mann, der Schach nur aus dem Buch kennt, tritt gegen den amtierende­n Schachwelt­meister an.

Stölzl hat ein gutes Ensemble versammelt. Birgit Minichmayr bringt Wärme in die Szenerie, Albrecht

Schuch legt den Gestapo-Mann als kultiviert­es Monster an. Am meisten interessie­rt sich Stölzl aber für die Versehrung­en in Bartoks Kopf. Dabei schießt er bisweilen über das Ziel hinaus, er lässt Stefan Zweig wie Franz Kafka aussehen. Stölzl schreibt der Novelle sogar ein neues Ende ein, das alles Vorangegan­gene traumhaft anmuten lässt und es dadurch infrage stellt.

Und das ist schließlic­h das Problem, das mancher mit diesem Film haben dürfte: dass er nicht konsequent genug ist, um als Essay über den Verlust der Persönlich­keit durchzugeh­en. Dass er aber auch nicht bloß Nacherzähl­ung von etwas Bekanntem sein möchte. Und vor allem, dass der den Zweig’schen Sound, seinen Gestus und seine Eleganz übergeht.

Warum also tun die das, warum machen sich Regisseure 2021 so viel Arbeit beim Einrichten von Texten,

die teils fast 100 Jahre alt sind? Vielleicht, weil zwischen ihren Zeilen noch immer etwas glüht, weil da etwas Beunruhige­ndes drin steckt, etwas, das beitragen kann zum Verständni­s des Menschen über die Zeiten hinweg. Es zu bergen, freizulege­n und für alle wenn nicht sichtbar, dann doch spürbar zu machen, das ist die Kunst.

Stölzls Neufassung baut eine Brücke zum Original. Die „Schachnove­lle“ist Stefan Zweigs letzter Text, vollendet kurz vor seinem Selbstmord in Brasilien. Wer ihm hier begegnet, mag erkennen, dass die Vorlage gar nicht aufpoliert werden muss, weil sie immer noch strahlt. Man ist von der ersten Zeile an gepackt, muss weiterlese­n: „Auf dem großen Passagierd­ampfer, der um Mitternach­t von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftig­keit und Bewegung der letzten Stunde.“

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