Vermeer leuchtet in Dresden
In der Gemäldegalerie ist eine Weltpremiere zu erleben: „Das Brief lesende Mädchen“im Originalzustand. Auch Joseph Beuys ist in der sächsischen Hauptstadt neu zu entdecken.
DRESDEN Die junge Frau hält inne, ist ganz bei sich. Helles Licht fällt durch ein geöffnetes Fenster und färbt ihre Wangen mit einem zarten Rot. Oder sind es die Zeilen des Briefs, den sie mit verschleierten Augen liest, die sie zum Erröten bringen? Viele Jahre wusste der Betrachter nicht, von welchen Gedanken und Gefühlen „Das Brief lesende Mädchen am offenen Fenster“erfüllt ist, warum die Person keinen Blick hat für ihre Umgebung. Auch ihr sanft bespiegeltes Antlitz im Fensterglas scheint unwichtig angesichts des Briefes, den ihre Hände halten wie einen Schatz. Nach Jahrzehnten des Rätselratens taucht aus den Geheimkammern der Kunstgeschichte die einzig plausible Antwort auf: Es sind Zeilen, die von der wahren Liebe künden und das große Glück verheißen. Warum sonst sollte ein blondgelockter und wohlgenährter Amor nackt sein kleines Gemächt recken und keck seinen schussbereiten Bogen vorzeigen?
Dass der Liebesbote schon immer anwesend war und die Szenerie lächelnd beäugte, wussten wir nicht. Denn das Bild im Bild, das an einer grauen Wand des Zimmers hängt und Cupidos Gegenwart bezeugt, war übermalt und verschwunden. Nachdem Dresdner Restauratoren das von Johannes Vermeer zwischen 1657 und 1659 gemalte Bild in seinen ursprünglichen Zustand versetzt und einer Ikone der Kunst ihre eigentliche Bedeutung wiedergegeben haben, können wir das „Brief lesende Mädchen am offenen Fenster“wirklich verstehen und den Moment des glücklichen Innehaltens auskosten.
Schon vor einigen Jahren hatte man herausgefunden, dass das amouröse Bild verkleistert wurde. Doch die Annahme, der finanziell notorisch klamme Vermeer selbst habe das anstößige Werk korrigiert, um es zu einem höheren Preis verkaufen zu können, war falsch. Analysen ergaben jetzt, dass die Übermalung viel später vorgenommen wurde. Es von der erotisch verklemmten Verhunzung eines namenlosen Kunstbanausen zu befreien, war überfällig.
Frisch restauriert bildet es nun den Höhepunkt einer bemerkenswerten Ausstellung im Dresdner Zwinger: „Vermeer. Vom Innehalten“feiert den Meister aus Delft und versammelt elf Bilder des Malers, von dem überhaupt nur 35 Werke bekannt sind. Bedeutende Museen aus aller Welt haben Kostbarkeiten nach Dresden ausgeliehen. „Die Briefleserin in Blau“und die „Häuseransicht in Delft“kommen aus Amsterdam, die „Frau mit der Waage“aus Washington, die „Junge Dame am Virginal stehend“aus London, „Der Geograph“aus Frankfurt, das „Mädchen mit dem Perlenhalsband“aus Berlin, „Die unterbrochene Musikstunde“aus New York. So opulent und umfassend wurde Vermeer noch nie in Deutschland gewürdigt.
Zur Seite gestellt werden ihm Werke seiner Zeitgenossen, die sich an ähnlichen Motiven versuchten. Gabriel Metsu, Willem van Mieris, Wallerant Vaillant und viele andere: ein interessanter Kunst-Diskurs. Doch eigentlich beschämt er nur die Kollegen und beweist die Einzigartigkeit des Farben-Genies Vermeer.
Die Kunststadt Dresden könnte sich freuen, den Magier des Moments, den Zauberer des Lichts, der verstohlene Blicke auf die alltäglichen Dinge wirft und tief in die Seele von gebildeten jungen Frauen schaut, die musizieren, lesen, schreiben, ihr Leben selbstbewusst in die Hand nehmen. Alles könnte schön sein. Wäre da nicht dieser nach einer Anfrage der AfD im Sächsischen Landtag plötzlich laut gewordene Streit über „Cancel Culture“, der sich bei genauerem Hinsehen als politisch motivierte Luftnummer erweist. „Schluss mit der Zensur“, schreibt die „Bild“, über einen „Bildersturm“ereifert sich die „Berliner Zeitung“. Was ist geschehen?
Die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden (SKD) haben die Titel von 120 Werken zum Teil erneuert, bei 23 kleine Änderungen vorgenommen und diskriminierende Begriffe ausgetauscht. Einige Titel wurden in Anführungsstriche gesetzt, andere ausgetauscht. Aber in der Datenbank der SKD finden sich weiterhin alle ursprünglichen Titel. „Die Bearbeitung von Werkund Objekttiteln ist eine übliche, seit Jahrhunderten in sehr vielen Museen in aller Welt stattfindende Praxis“, teilen die SKD auf Anfrage mit. 1,48 Millionen Exponate befinden sich in den Dresdner Archiven: 0,01 Prozent aller Titel wurden leicht verändert.
Was hätte wohl Joseph Beuys, für den jeder ein Künstler und die Kunst eine soziale Plastik war, dazu gesagt? Der stets streitbare Schöpfer des Gesamtkunstwerks hätte wohl nur den Kopf geschüttelt und einen provokanten Kommentar rausgehauen. Oder mit schnellem Strich eine süffisante Zeichnung aufs Papier geworfen. Dass der Installations-Derwisch und Aktions-Schamane Beuys, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr global gefeiert wird, nicht nur ein Mann von Filz und Fettecke, Honigtopf und Eurasien-Stab war, sondern auch ein Zeichner, der auf Schritt und Tritt seine Ideen und Eindrücke auf jeden Zettel kritzelte, ist wenig bekannt. Im Dresdner Residenzschloss, nur einen Steinwurf von Vermeer im Zwinger entfernt, sind jetzt 85 Zeichnungen des politischen Provokateurs zu sehen: „Linie zu Linie – Blatt um Blatt“ist ein inspirierender Diskurs über Wirklichkeit und Wahrnehmung, Utopie und Rebellion. Die Beuys-Familie gewährt erstmals Einblicke in ihre Privatsammlung: ein tolles Geschenk.