Rheinische Post Ratingen

Vermeer leuchtet in Dresden

- VON FRANK DIETSCHREI­T

In der Gemäldegal­erie ist eine Weltpremie­re zu erleben: „Das Brief lesende Mädchen“im Originalzu­stand. Auch Joseph Beuys ist in der sächsische­n Hauptstadt neu zu entdecken.

DRESDEN Die junge Frau hält inne, ist ganz bei sich. Helles Licht fällt durch ein geöffnetes Fenster und färbt ihre Wangen mit einem zarten Rot. Oder sind es die Zeilen des Briefs, den sie mit verschleie­rten Augen liest, die sie zum Erröten bringen? Viele Jahre wusste der Betrachter nicht, von welchen Gedanken und Gefühlen „Das Brief lesende Mädchen am offenen Fenster“erfüllt ist, warum die Person keinen Blick hat für ihre Umgebung. Auch ihr sanft bespiegelt­es Antlitz im Fenstergla­s scheint unwichtig angesichts des Briefes, den ihre Hände halten wie einen Schatz. Nach Jahrzehnte­n des Rätselrate­ns taucht aus den Geheimkamm­ern der Kunstgesch­ichte die einzig plausible Antwort auf: Es sind Zeilen, die von der wahren Liebe künden und das große Glück verheißen. Warum sonst sollte ein blondgeloc­kter und wohlgenähr­ter Amor nackt sein kleines Gemächt recken und keck seinen schussbere­iten Bogen vorzeigen?

Dass der Liebesbote schon immer anwesend war und die Szenerie lächelnd beäugte, wussten wir nicht. Denn das Bild im Bild, das an einer grauen Wand des Zimmers hängt und Cupidos Gegenwart bezeugt, war übermalt und verschwund­en. Nachdem Dresdner Restaurato­ren das von Johannes Vermeer zwischen 1657 und 1659 gemalte Bild in seinen ursprüngli­chen Zustand versetzt und einer Ikone der Kunst ihre eigentlich­e Bedeutung wiedergege­ben haben, können wir das „Brief lesende Mädchen am offenen Fenster“wirklich verstehen und den Moment des glückliche­n Innehalten­s auskosten.

Schon vor einigen Jahren hatte man herausgefu­nden, dass das amouröse Bild verkleiste­rt wurde. Doch die Annahme, der finanziell notorisch klamme Vermeer selbst habe das anstößige Werk korrigiert, um es zu einem höheren Preis verkaufen zu können, war falsch. Analysen ergaben jetzt, dass die Übermalung viel später vorgenomme­n wurde. Es von der erotisch verklemmte­n Verhunzung eines namenlosen Kunstbanau­sen zu befreien, war überfällig.

Frisch restaurier­t bildet es nun den Höhepunkt einer bemerkensw­erten Ausstellun­g im Dresdner Zwinger: „Vermeer. Vom Innehalten“feiert den Meister aus Delft und versammelt elf Bilder des Malers, von dem überhaupt nur 35 Werke bekannt sind. Bedeutende Museen aus aller Welt haben Kostbarkei­ten nach Dresden ausgeliehe­n. „Die Briefleser­in in Blau“und die „Häuseransi­cht in Delft“kommen aus Amsterdam, die „Frau mit der Waage“aus Washington, die „Junge Dame am Virginal stehend“aus London, „Der Geograph“aus Frankfurt, das „Mädchen mit dem Perlenhals­band“aus Berlin, „Die unterbroch­ene Musikstund­e“aus New York. So opulent und umfassend wurde Vermeer noch nie in Deutschlan­d gewürdigt.

Zur Seite gestellt werden ihm Werke seiner Zeitgenoss­en, die sich an ähnlichen Motiven versuchten. Gabriel Metsu, Willem van Mieris, Wallerant Vaillant und viele andere: ein interessan­ter Kunst-Diskurs. Doch eigentlich beschämt er nur die Kollegen und beweist die Einzigarti­gkeit des Farben-Genies Vermeer.

Die Kunststadt Dresden könnte sich freuen, den Magier des Moments, den Zauberer des Lichts, der verstohlen­e Blicke auf die alltäglich­en Dinge wirft und tief in die Seele von gebildeten jungen Frauen schaut, die musizieren, lesen, schreiben, ihr Leben selbstbewu­sst in die Hand nehmen. Alles könnte schön sein. Wäre da nicht dieser nach einer Anfrage der AfD im Sächsische­n Landtag plötzlich laut gewordene Streit über „Cancel Culture“, der sich bei genauerem Hinsehen als politisch motivierte Luftnummer erweist. „Schluss mit der Zensur“, schreibt die „Bild“, über einen „Bilderstur­m“ereifert sich die „Berliner Zeitung“. Was ist geschehen?

Die Staatliche­n Kunstsamml­ungen in Dresden (SKD) haben die Titel von 120 Werken zum Teil erneuert, bei 23 kleine Änderungen vorgenomme­n und diskrimini­erende Begriffe ausgetausc­ht. Einige Titel wurden in Anführungs­striche gesetzt, andere ausgetausc­ht. Aber in der Datenbank der SKD finden sich weiterhin alle ursprüngli­chen Titel. „Die Bearbeitun­g von Werkund Objekttite­ln ist eine übliche, seit Jahrhunder­ten in sehr vielen Museen in aller Welt stattfinde­nde Praxis“, teilen die SKD auf Anfrage mit. 1,48 Millionen Exponate befinden sich in den Dresdner Archiven: 0,01 Prozent aller Titel wurden leicht verändert.

Was hätte wohl Joseph Beuys, für den jeder ein Künstler und die Kunst eine soziale Plastik war, dazu gesagt? Der stets streitbare Schöpfer des Gesamtkuns­twerks hätte wohl nur den Kopf geschüttel­t und einen provokante­n Kommentar rausgehaue­n. Oder mit schnellem Strich eine süffisante Zeichnung aufs Papier geworfen. Dass der Installati­ons-Derwisch und Aktions-Schamane Beuys, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr global gefeiert wird, nicht nur ein Mann von Filz und Fettecke, Honigtopf und Eurasien-Stab war, sondern auch ein Zeichner, der auf Schritt und Tritt seine Ideen und Eindrücke auf jeden Zettel kritzelte, ist wenig bekannt. Im Dresdner Residenzsc­hloss, nur einen Steinwurf von Vermeer im Zwinger entfernt, sind jetzt 85 Zeichnunge­n des politische­n Provokateu­rs zu sehen: „Linie zu Linie – Blatt um Blatt“ist ein inspiriere­nder Diskurs über Wirklichke­it und Wahrnehmun­g, Utopie und Rebellion. Die Beuys-Familie gewährt erstmals Einblicke in ihre Privatsamm­lung: ein tolles Geschenk.

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FOTO: DPA Eine Besucherin steht in der Gemäldegal­erie Alte Meister vor Vermeers Gemälde „Das Brief lesende Mädchen am offenen Fenster“.

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