Bond, der Liebende
Das wendungsreiche neue Agenten-Abenteuer gerät arg lang, bietet aber eine mächtige Überraschung. Das Ende ist ganz große Oper.
Was in diesem Film passiert, ist ein bisschen, als berührte die Sonne den Mond. Es geschieht etwas Unmögliches, etwas geradezu Unvorstellbares: James Bond, der Weltpolizist, der harte Hund und Jet-Set-Nomade, dieser James Bond entwickelt tatsächlich Vatergefühle.
„Keine Zeit zu sterben“heißt das 25. Bond-Abenteuer, und sein Hauptdarsteller Daniel Craig hat innerhalb von 15 Jahren eine der berühmtesten Figuren der Kinogeschichte aus dem Sixties-Museum befreit, in die Gegenwart geholt und revolutioniert. Er gab ihr eine Vergangenheit, er verlieh ihr Tiefe. Craig nahm die Rolle persönlich, und dadurch machte er aus einem Abziehbild und einer Karikatur eine Person mit schlagendem Herzen. Sein Bond ist ein Liebender und Leidender, und nun führt er seine Erzählung ins Finale. Gleich zu Beginn sagt er „Ich liebe dich“. Am Ende sagt er es noch einmal. Und danach ist nichts mehr wie zuvor.
Bond hat sich eigentlich zur Ruhe gesetzt, er lebt jetzt auf Jamaika, aber in London brauchen sie ihn dann doch noch einmal. Die tödlichste aller Waffen kursiert nämlich in der Welt: auf bestimmte Personen oder Personengruppen genetisch programmierte Mikrobots, die wie Viren übertragen werden und die Kontaminierten sofort umbringen. Besonders fies ist, dass sich die Überbringer das Zeug nur auf die Hände schmieren müssen, um bei der Begrüßung sozusagen auch gleich den Abschiedsbrief zu überreichen.
Rami Malek, der für seine Darstellung des Freddie Mercury in „Bohemian Rhapsody“den Oscar gewann, spielt den gesichtsvernarbten BondWidersacher Safin, der sich diese Perfidie ausgedacht hat. Und wie so viele seiner Vorgänger spricht er betont leise, schaut irre und redet eindeutig zu viel. Die Bond-Gegner könnten viel effektiver sein, wenn sie kein so großes Mitteilungsbedürfnis hätten. Andererseits ist das natürlich gut, man bekommt dann was fürs Geld. Dieser Film dauert mit 163 Minuten so lange wie kein Bond zuvor, und er ist vollgestopft mit Action, Stunts und schönen Waren.
Eine der besten Szenen ist jene, in der Bond in seinem Aston Martin sitzt und von vier Seiten umzingelt wird. Die Gangster steigen aus, schießen ungezügelt mit MGs auf Bonds Auto, das jedoch außerordentlich gut gepanzert ist. Bond sitzt minutenlang da wie jemand, der einen Regenschauer abwartet.
Oder kann er einfach nicht mehr? Hat er keine Kraft? Endlich drückt er einen Knopf, und aus den Scheinwerfern des Wagens stoßen Maschinengewehre. Bond drückt aufs Gas und zieht die Handbremse: eine Drehung, weg ist er. Keine Zeit zu sterben.
Wenn man James-Bond-Filme als Pfadfinder-Handbücher lesen würde, als Überlebens-Ratgeber für besondere Härtefälle, könnte man in dieser neuen Lieferung zum Beispiel lernen, wie man Glasaugen unter Verwendung eines Silbertabletts stil- und effektvoll einsetzt. Wie man in einen Smoking gekleidet aus dem verschlossenen und zudem überfluteten Maschinenraum eines sinkenden Schiffes flieht. Und wie man mit einem Geländewagen fünf ebensolchen, zwei Motorrädern und einem Helikopter nicht bloß entkommt, sondern alle acht auch noch komplett zerlegt.
Der Zuschauer watet irgendwann in Patronenhülsen, aber viel interessanter ist, dass es ihm auch das Herz bricht. Denn, ehrlich: Dies ist der Bond-Film mit dem Kloß im Hals. In der Sequenz vor dem Vorspann gibt es eine Rückblende, da sieht man Bond, wie er fünf Jahre vor Beginn der Handlung glücklich mit
Madeleine Swann (Léa Seydoux) zusammenlebt. Sie turteln und techteln, und Bond redet daher wie ein Teenager mit Schmetterlingen im Bauch. Doch es scheint, als gehe es ihm wie immer: Die geliebte Person verrät ihn, zumindest glaubt Bond das, und in einer wunderbar inszenierten Abschiedsszene steht er am Bahnsteig, während sie im Zug gegen die Fahrtrichtung läuft, um auf seiner Höhe zu bleiben und ihm in die Augen zu blicken.
Cary Fukunaga, der mit der Serie „True Detective“berühmt wurde, lässt Bond und Madeleine zum Glück bald wieder aufeinandertreffen: ein Blick, alles klar, big love. Überhaupt funktioniert „Keine Zeit zu sterben“noch viel besser als Liebesfilm denn als Actionmovie. Madeleine hat nun eine Tochter, sie ist etwa fünf Jahre alt, und sie hat ebenso blaue Augen wie Bond. Ist er der Vater? Oder tappt er in eine Falle? „Ich habe Hunger“, sagt das Mädchen am Morgen, und Bond serviert ein Frühstück auf die Geheimagenten-Art: ein Apfel, geschält mit dem Taschenmesser. Daddy Cool.
Es wirkt tatsächlich kurz, als habe Bond seine eigene Welt gerettet, sich von all den Traumata befreit. Aber Billie Eilish, deren Lied „No Time To Die“man nach diesem Film überhaupt erst wirklich begreift, singt: „Life is far away from fair.“Madeleine und ihre Tochter werden von Safin entführt. Bond jettet von Kuba über Norwegen auf eine entlegene Insel mit bunkerartiger Gebäudeanlage, um sie zu befreien. Er will nicht nur sein persönliches Glück, sondern auch die Zukunft der Welt bewahren. Denn auch darum geht es Craigs Bond ja: nicht bloß um den Moment, sondern um Transzendenz. Nicht um Hedonismus, sondern um stellvertretendes Leiden.
Im Showdown zwischen Bond und Safin kommt es zu einer Wendung, die den Kinosaal seufzen lässt. Das Ende ist große Oper. Nix verraten, nur so viel: James Bond hat ein Stofftier bei sich. Und das Mädchen mit den blauen Augen lächelt.