„Der Osten hat die Wahl entschieden“
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident beschreibt zum Einheitstag Gemeinsamkeiten zwischen den alten und neuen Ländern und spricht über blühende Landschaften.
Sachsen-Anhalt richtet in diesem Jahr die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit aus. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) spricht über Westfernsehen im Osten, Lehren aus der Bibel und die deutsche Prägung durch die friedliche Revolution von 1989. Der CDUPolitiker blickt auf Stresstests für die Gesellschaft – und für seine Partei nach der Bundestagswahl.
„Gemeinsam Zukunft formen“ist das Motto des diesjährigen Einheitstages – was ist zu formen? HASELOFF Wir müssen die Einheit weiter voran bringen. Die Menschen in den westlichen Bundesländern könnten noch deutlicher zur Kenntnis nehmen, dass unser Land durch die friedliche Revolution von 1989 einen positiven Gründungsmythos bekommen hat. Das ist ausformbar. Wir haben das große Gemeinschaftsgefühl und gegenseitige Hilfe bei den Flutkatastrophen erlebt. Allerdings schlagen sich 40 Jahre getrennte Entwicklung immer noch in den statistischen Daten nieder: Bei vielen Indikatoren, etwa beim Durchschnittseinkommen, ist die frühere Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR auch 31 Jahre nach der Einheit weiterhin zu erkennen.
Das Trennende ist also noch da? HASELOFF Die Gemeinsamkeiten sind deutlich größer. Wir waren immer eine Kulturnation. Wir haben im Osten Goethes Faust genauso gelesen wie Sie im Westen. Wir haben vermutlich sogar mehr Westfernsehen geguckt als Sie, weil es im Westen mehr Freizeitmöglichkeiten gab. Aber aus der Bibel wissen wir, dass die Sünden der Väter bis in die dritte und vierte Generation fortwirken. Es kann also noch dauern. Vielleicht ist vielen auch gar nicht so sehr bewusst, dass wir das Glück hatten, 16 Jahre lang eine Bundeskanzlerin aus dem Osten zu haben.
Ist Merkel als Fürsprecherin des Ostens wahrgenommen worden?
HASELOFF Sie hat das natürlich nicht ausgespielt. Aber als einer der dienstältesten Ministerpräsidenten kann ich sagen, dass sie für ostdeutsche Themen immer sehr aufgeschlossen war, ohne dass wir eine große Welle machen mussten. Vieles wäre ohne sie nicht durchsetzbar gewesen – bis hin zur Ausgestaltung des Kohleausstiegs. Ihr musste man nicht umständlich erklären, worum es im Osten geht.
Was sind die größten Herausforderungen beim „Formen“der Zukunft?
HASELOFF Wir sehen, dass durch die veränderte Kommunikation die Zugänge der Politik zu den Menschen immer schwieriger werden. Wir sehen auch, dass wir in gesellschaftlichen Stresssituationen wie bei der Migration 2015 oder jetzt in der Pandemie eine große Polarisierung haben. Hier muss die politische Kultur belastbarer werden. Wir haben gewaltige Umbrüche vor uns, die mit der Klimapolitik zu tun haben. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir das hinkriegen. Schon jetzt kommt die Hälfte des Wasserstoffs in Deutschland aus Sachsen-Anhalt. Die Energiewende werden wir auch aus Mitteldeutschland heraus bewältigen.
Sachsen-Anhalt war vorne bei RotGrün-Rot, bei Schwarz-Rot-Grün, jetzt bei Schwarz-Rot-Gelb. Warum ist Ihr Land so oft Labor für neue Koalitionen?
HASELOFF Die erste dieser Koalitionen war eine Minderheitsregierung. Die war nicht gut für das Land, wie wir auch an der Verschuldung ablesen können. Daraus folgte als Konsequenz, nach Mehrheiten in der Mitte zu suchen. Demokraten müssen dazu in der Lage sein, trotz unterschiedlicher Programmatik gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, und darauf achten wir.
2003 war Sachsen-Anhalt zuletzt Gastgeber für die Einheitsfeiern. Was hat sich seitdem getan? HASELOFF Damals hatten wir noch
Arbeitslosenquoten von 20 Prozent und mehr, in einzelnen Regionen sogar über 30 Prozent. Jetzt haben wir faktisch Vollbeschäftigung. Wir stehen seit Monaten besser da als beispielsweise NRW. Schwer zu schaffen machen wird uns aber die Demografie und der Umstand, dass wir seit 1990 eine halbierte Geburtenrate haben. Aber wer heute durch Sachsen-Anhalt fährt, wird positiv überrascht sein.
Blühende Landschaften?
HASELOFF Was wir uns damals mit Helmut Kohl vorgenommen haben, ist in vielen Bereichen eingetreten. Wir haben viele blühende Landschaften, aber leider auch noch sehr strukturschwache Regionen, in Ost wie West. Das müssen wir ändern.
Was bleibt zu tun?
HASELOFF Wir müssen uns sehr anstrengen, damit Europa nicht wieder auseinanderbricht. Gerade wir Ostdeutschen müssen noch klarer machen: Wir sollten sensibel mit unseren osteuropäischen Nachbarn umgehen. Wir dürfen sie nicht ausgrenzen und müssen sie mitnehmen bei der Gestaltung Europas.
Die Gespräche am Tag der Deutschen Einheit dürften geprägt sein von aktuellen Koalitionsfragen. Was ist Ihr Gefühl: Wer wird Kanzler?
HASELOFF Es mag sein, dass das viele beschäftigt, aber letztlich ist es politisches Kerngeschäft und Merkmal der Demokratie. Wir haben ein geordnetes Verfahren mit freien Wahlen erlebt, und nun sprechen alle demokratischen Parteien miteinander. So soll es auch sein.
Zu Ost-West-Unterschieden gehört auch, dass die CDU in mehreren ostdeutschen Ländern am Sonntag von der AfD überholt werden konnte. Wie ist das zu erklären? HASELOFF Das ist auch eine Frage der Mathematik. Die AfD hat in bestimmten Regionen einen festen Sockel um die 20 Prozent. Wenn sich dann die Stimmen in der Mitte neu verteilen und eine Partei dort auf 19 Prozent fällt, ist die AfD auf Platz eins, ohne dass sich bei ihr etwas geändert hätte. Die Summe für die Demokraten in der Mitte ist ebenfalls gleichgeblieben. In Thüringen und Sachsen mag es bei den Direktwahlkreisen Sonderfälle geben, aber in Sachsen-Anhalt war bei den Landtagswahlen vor einem Vierteljahr noch alles bei der CDU, hier liegt nun die SPD vorne.
Woran liegt das?
HASELOFF Bei den Landtagswahlen hatten wir noch ein Verhältnis von 37 zu 8 Prozent für CDU und SPD. Daran kann man sehen, wie wichtig nicht nur das Programm, sondern auch das Vertrauen in Personen ist. Ich habe kein Hehl daraus gemacht, wer im Osten besser ankommt. Nun ist es so gekommen, wie die Demoskopen und auch ich vorhersagten: Der Osten hat die Wahl entschieden. Hätte die CDU im Osten nicht zehn Prozentpunkte unter dem Westen abgeschnitten, wäre die Union als Siegerin aus den Bundestagswahlen
hervorgegangen.
Ist das ein einmaliges Phänomen? HASELOFF Nein, das ist schon bei der Kandidatur von Edmund Stoiber 2002 sichtbar geworden. Ohne den Westen kann in Deutschland keiner gewinnen, aber ohne den Osten kann er trotzdem verlieren. Das hat sich dieses Mal wiederholt.
Wenn Sie das Vertrauen in Personen ansprechen: Hat Laschet das Format zum Kanzler?
HASELOFF Natürlich hat er das. Aber das ist nicht der Punkt. Das Wahlverhalten ist in den Regionen unterschiedlich ausgeprägt. Im Osten hatte Olaf Scholz scheinbar mehr Vertrauensvorschuss als Armin Laschet.
Was muss die CDU tun, um wieder nach vorne zu kommen?
HASELOFF Wenn wir gerade 37,1 Prozent geholt haben, kann es ja zumindest in Sachsen-Anhalt nicht um die Frage gehen, wie sich die CDU wieder erholen kann. Wir stellen im Landtag die mit Abstand stärkste Fraktion. Wir haben es bei der Bundestagswahl mit einem Ereignis zu tun, das genaustens ausgewertet werden muss. Die starken Volksparteien CDU und CSU werden das, wie so vieles andere zuvor, vernünftig auflösen. Diese Wahl ist für uns kein Weltuntergang, wenn wir die richtigen Schlüsse aus ihr ziehen.