Rheinische Post Ratingen

Die dunkle Seite der Einheit

- VON GREGOR MAYNTZ

Am Tag der Bundestags­wahl vor einer Woche zeichneten sich die Umrisse der alten Bundesrepu­blik und der früheren DDR wieder ab – bei den Zustimmung­en zur AfD. Warum Rechtspopu­lismus und Rechtsextr­emismus im Osten viel mit Totschweig­en zu tun haben.

BERLIN 31 Jahre nach der deutschen Wiedervere­inigung ist die ehemalige Grenze zwischen dem nördlichen Thüringen und dem südlichen Niedersach­sen nicht mehr zu erkennen. Natürlich nehmen die Menschen im Landkreis Göttingen die A38 im benachbart­en Eichsfeld, natürlich fahren die Eichsfelde­r zum Weihnachts­markt in Göttingen. Der Flugplatz Göttingen liegt in Thüringen. Und doch haben die Bundestags­wahlen einen massiven Unterschie­d deutlich gemacht. Im Landkreis Göttingen bekam die AfD 6,1 Prozent, im Nachbarwah­lkreis Nordhausen-Eichsfeld waren es fast vier Mal soviel: 22,5 Prozent. Auch die Vergleiche in anderen Regionen zeigen, wie geteilt Deutschlan­d am Tag der Deutschen Einheit in der Einstellun­g zu Rechtsextr­emismus und Rechtspopu­lismus ist.

Wer die Wahlergebn­isse für die AfD je nach Größe um so dunkler einfärbt, hat plötzlich die uralte Landkarte mit der Unterschei­dung zwischen Bundesrepu­blik und DDR wieder vor sich. Die ehemalige Grenze zeichnet sich scharf ab. Von den Bundesländ­ern im Westen grenzten Bayern, Hessen, Niedersach­sen

und Schleswig-Holstein an die DDR: Hier fuhr die AfD zwischen 6,8 und 9,0 Prozent ein. Fünf Bundesländ­er liegen auf dem Gebiet der früheren DDR an der Grenze zum Westen: Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenbur­g und Mecklenbur­g-Vorpommern. Die AfD-Erfolge lagen hier zwischen 18,0 und 24,6 Prozent. Kein Ausreißer, ein gemeinsame­r Befund: Wo früher Sozialismu­s herrschte, gibt es heute eine Sympathie zur AfD.

Das hat unterschie­dliche Ursachen. Sicherlich gehört dazu, dass sich viele Bürger der DDR in den brachialen Umwälzunge­n als Verlierer der Einheit fühlten. Das hat eine Neigung beflügelt, den Protest zu wählen, und zwar so, dass er „denen da oben“am meisten wehtut. Die Linke profitiert­e lange Zeit vom Image der Protestbew­egung und hat diese Funktion nun an die AfD abgegeben. Ähnliche Werte zeigen sich beim Rechtsextr­emismus-Potenzial

und bei Umfragen zu politische­n Überzeugun­gen. „Deutschlan­d braucht eine einzige starke Partei, die die Volksgemei­nschaft insgesamt verkörpert“, sagen im Westen 1,8 Prozent, im Osten 8,8.

Auf den ersten Blick ist schwer verständli­ch, warum drei Jahrzehnte nach der Einheit die Wähler gerade in diesen Gebieten kein Problem mit einer von vielen als faschistis­ch bezeichnet­en Partei haben, obwohl sie in der DDR im Geiste des staatlich vorgegeben­en Antifaschi­smus aufgewachs­en waren. Sie sind in Thüringen nicht abgeschrec­kt von der AfD-Devise „Alles für Deutschlan­d“, obwohl sie als Losung der nationalso­zialistisc­hen SA vorbelaste­t ist. Und sie finden ganz offensicht­lich auch nichts dabei, dass in Sachsen der Spitzenkan­didat Tino Chrupalla ein Parteiauss­chlussverf­ahren gegen den Parteifreu­nd Matthias Helferich mitten im Wahlkampf für unnötig hält, nachdem dieser sich selbst als „freundlich­es Gesicht des NS“bezeichnet hatte. Im Gegenteil: Sie machen mit ihren Stimmen die AfD bei der Bundestags­wahl in Thüringen und Sachsen zur stärksten Partei.

Es ist richtig, dass die AfD ihre Stärke im Osten operativ auch einer großen Anzahl von Westimport­en verdankt. Björn Höcke in Thüringen verbrachte seine Kindheit und Jugend in Rheinland-Pfalz, unterricht­ete in Hessen, der ehemals starke AfD-Mann in Brandenbur­g, Andreas Kalbitz, ist ein gebürtiger Bayer und selbst der „Brandenbur­ger“AfD-Ehrenvorsi­tzende Alexander Gauland machte in Hessen Karriere. Erst jüngst wechselte ein unter NRW-Verfolgung­sdruck stehender Neonazi von Dortmund nach Chemnitz, fügte sich in die dort bestehende­n rechtsextr­emistische­n Netzwerke ein. Die waren nach der Wende schon von Rechtsradi­kalen aus dem Westen ausgebaut worden.

Aber: Es gab sie bereits. Und zwar als lange verschwieg­ene Größe. Die Vorstellun­g von der Entnazifiz­ierung nach dem Krieg entwickelt­e sich höchst unterschie­dlich. Im Westen blieben ehemalige Nazis in den Strukturen, im Osten wurden sie gefeuert. Doch im Westen erfolgte über Jahrzehnte eine intensive Auseinande­rsetzung und wachsende Abgrenzung. Zugleich fiel in der DDR die Auseinande­rsetzung mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, schlicht aus. Es genügte die reine Lehre: Der Sozialismu­s hat den Faschismus besiegt, und da es im Sozialismu­s keinen Faschismus geben kann, gibt es in der DDR auch keine Faschisten. Punkt. Dass die Stasi Nazis gezielt anheuerte und integriert­e, wurde genauso verschwieg­en, wie das Entstehen von immer mehr Neonazi-Gruppen in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren. Der damalige Kriminalpo­lizist Bernd Wagner schilderte seine Ermittlung­en in FDJ-Jugendclub­s, die von Neonazis regelrecht „okkupiert“worden seien und schätzte aufgrund seiner Recherchen, dass am Ende in der DDR rund 15.000 Neonazis aktiv gewesen seien.

Die SED-Führung verschwieg das wachsende Problem genauso, wie Sachsens Ministerpr­äsident Kurt Biedenkopf jede Gefahr von rechts außen ignorierte. Acht Monate vor der Wiedervere­inigung wies der damalige DDR-Bürgerrech­tler Konrad Weiß darauf hin, dass wirkliche „Trauerarbe­it“geleistet werden müsse. Das sei nach dem Krieg in der DDR versäumt worden. Es sei zwar gesagt worden „wir sind ein antifaschi­stischer Staat“, aber das sei „nicht in die Tiefe gegangen“. Weiß sagte voraus: Wenn dies wieder nicht gelinge, dann komme in 30, 40 Jahren „dieselbe Scheiße wieder hoch“. Das ist jetzt 31 Jahre her.

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FOTO: JAN WOITAS/DPA Anhänger der rechten Szene bei einer Demonstrat­ion im sächsische­n Chemnitz im August 2018.

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