Sprießgesellen
Die einfache Rechnung, dass viel Regen auch die Pilze sprießen lässt, geht nicht immer auf. Zum Beispiel in diesem Jahr. Bisher ist die erhoffte SchwammerlSchwemme nämlich ausgeblieben. „Bei uns im Westen von NRW war die Saison bislang eher schlecht“, sagt Rainer Wald, Pilzsachverständiger bei der Deutschen Gesellschaft für Mykologie (DGfM), „viele Sorten gibt es bislang noch gar nicht.“Möglicherweise liege das daran, dass es im August zu kühl und die Verdunstungsrate zu niedrig gewesen sei, also warm-feuchte Luft gefehlt habe. Genau lasse sich das aber nicht sagen, oft entscheide das regionale Mikroklima darüber, ob Pilze wachsen oder nicht. „Es gibt dabei viele Prozesse, die wir immer noch nicht verstehen“, erklärt Wald, „und Pilze halten sich eben nicht an den Kalender.“
So sah es im vergangenen Jahr zunächst danach aus, als würde die Pilz-Saison größtenteils ausfallen, bis es im Oktober dann doch noch einen großen Wachstumsschub gab. Dies könne in diesem Jahr durchaus auch noch passieren, spekuliert Wald, nur sei darauf eben kein Verlass. Das Gute an der bisher eher flauen Saison: Es gibt deutlich weniger Vergiftungsfälle. „Wenn die Zahl der Anrufe irgendwann zunimmt, ist das ein deutlicher Indikator dafür, dass es großflächig Pilze gibt“, sagt Wald. Bislang sei es dahingehend aber eher ruhig. An der gewachsenen Einsicht der Sammler liege es auf jeden Fall nicht. Wald: „Trotz vieler Pilzbestimmungskurse wird im Wald alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest ist.“
Meistens handelt es sich bei Vergiftungen um sogenannte unechte Pilzvergiftungen. Pilze bestehen größtenteils aus Eiweiß, und das ist verderblich – es zersetzt sich. Möglicherweise wurde der Pilz bereits verdorben gesammelt oder später nicht richtig gelagert. Wird er gegessen, kann das zu einer unangenehmen, aber nicht lebensbedrohlichen Lebensmittelvergiftung führen, oft begleitet von Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Deshalb ist es wichtig, Pilze kühl zu lagern, am besten im Kühlschrank, aber nicht länger als ein bis zwei Tage. Zu alte Pilze, bei denen der Zersetzungsprozess schon begonnen hat, erkennt man daran, dass sich der Fruchtkörper leicht zusammendrücken lässt – er sollte aber eher fest und knackig sein. Wald erklärt, dass vergammelte Pilze labberig und schmierig werden. Als Sammler sollte man damit umgehen wie mit fleckigem Gemüse im Supermarkt, das nehme man ja auch nicht mit.
Um sich beim Sammeln davor zu schützen, einen gefährlichen Pilz in den Korb zu legen, reichten beispielsweise Bestimmungs-Apps für das Smartphone nicht aus. Es gebe hierzulande etwa 5500 bis 6000 Großpilzarten, sagt Wald, eine App würde aber meist nur rund 300 kennen. „Diese digitalen Angebote gehen davon aus, dass sich der Benutzer schon mit Pilzen auskennt und damit, Sachverhalte und Angaben zu interpretieren“, erklärt Wald. Das sei aber viel zu gefährlich, oft müsste man etwa Bestandteile eines Pilzes wie Lamellen mikroskopieren, um sicher sagen zu können, um welche Art es sich handelt. „Solche Apps sind gut, wenn es darum geht, Pflanzen oder Insekten zu bestimmen, aber nicht etwas, das gegessen werden soll“, sagt der Experte.
Die wichtigste Regel lautet: Um auf Nummer sicher zu gehen, sollten Sammler Pilze, die sie nicht kennen, auf keinen Fall mitnehmen.
Außer, um sie von einem Pilzsachverständigen bestimmen zu lassen. Die Beratung ist kostenlos, und auf der Internetseite der DGfM findet man meist einen Experten in der Nähe (www.dgfm-ev.de). So wird zum Beispiel der Grüne Knollenblätterpilz, der giftigste Vertreter in unseren Wäldern, immer wieder mit Champignons verwechselt. Identifiziert ein Sammler einen Champignon, packt er vielleicht den daneben stehenden Knollenblätterpilz mit in den Korb, ohne ihn näher zu betrachten. Der Verzehr kann tödliche Folgen haben – das im Pilz enthaltene Gift Amanitin greift massiv die Leber an.
Auch bei Bestimmungs-Büchern ist Experte Wald zurückhaltend. Ein solcher Band sollte schon mindestens 1500 Arten enthalten, um dem Sammler das Gefühl zu vermitteln, dass er einen Fund schnell verwechseln kann und er vorsichtiger agiert. Kleine Büchlein mit 80 Pilzarten
würden da nicht weiterhelfen. Vergiftungsfälle werden aber auch immer wieder bei Geflüchteten registriert, die zu giftigen Pilzen greifen, weil sie genießbaren Vertretern aus ihren Heimatländern zum Verwechseln ähnlich sehen. Zudem breiten sich exotische Pilze wie der Bambustrichterling oder der Parfümierte Trichterling allmählich weiter aus, die beide essbare Doppelgänger besitzen. Das Gift dieser Pilze kann dazu führen, dass Nervenzellen in Fingern und Füßen absterben, was zu großen Schmerzen führt. Zugleich würden die Betroffenen laut Wald opiatresistent, viele Schmerzmittel würden damit nicht mehr helfen.
Generell gilt: Kommt es nach dem Essen zu Vergiftungserscheinungen wie Übelkeit oder Erbrechen, sollte die Giftnotrufzentrale in Bonn informiert oder in der Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses Hilfe gesucht werden. Hauptsächlich
gesammelt werden hierzulande allerdings Röhrenpilze wie Steinpilze oder der Maronen-Röhrling, zudem Champignons und Pfifferlinge. Auch dabei gibt es zwar Verwechslungsgefahren, allerdings laut Wald mit überschaubaren Folgen. Gerät etwa ein Schönfuß-Röhrling mit in die Pfanne, kann dies zu Bauchschmerzen führen, weil der Pilz unbekömmlich ist. Lebensgefahr aber besteht nicht.
Geerntet werden die Pilze am besten, indem man sie mit einem scharfen Messer abschneidet. Das hat etwa Sinn bei Parasol-Pilzen, weil der Stiel holzig ist. Steinpilze dagegen kann man auch vorsichtig herausdrehen, um möglichst viel zu erhalten. Am besten reinigt man sie noch vor Ort, damit sie sich länger halten. Das dabei entstandene Loch im Boden sollte wieder mit Moos und Erde bedeckt werden, damit das Pilzmyzel nicht austrocknet.
Wald hat in den vergangenen Jahren auch zunehmend Gruppen beobachtet, die in Transportern anreisen und den Wald systematisch leerpflücken – die in Waschkörben und Eimern gesammelte Ware lande dann in Restaurants. Beliebt sind besonders Steinpilze, weil sie hohe Preise erzielen. Manche dieser Pilze können ein Gewicht von 800 bis 1200 Gramm erreichen, liegen also schon an der Grenze des gesetzlichen Eigenbedarfs. Im Bundesartenschutzgesetz ist diese Höchstgrenze für den Eigenbedarf festgelegt, um den gewerblichen Handel zu verhindern – ein Kilo pro Kopf und Tag. Wer mehr sammeln will, braucht eine Lizenz. Allerdings wird laut Wald bei Kontrollen in der Regel schon nachsichtig bewertet. Wenn beispielsweise eine mehrköpfige Familie drei oder vier Kilogramm Pilze im Korb habe, gelte das noch als Eigenbedarf. „Viel mehr als eine Mahlzeitmenge mitzunehmen, macht aber keinen Sinn“, sagt Wald, „das ganze Zeug muss ja verarbeitet werden.“Und selbst im Kühlschrank könnten die Pilze nach ein paar Tagen verderben.
Generell wünscht sich der Experte, dass die Menschen bei ihren Sammeltouren durch den Wald sorgsamer mit der Natur umgehen. Viele würden dort einfach ihren Müll hinterlassen und zum Beispiel Zigarettenkippen achtlos auf die Erde werfen. Zudem werde gnadenlos querfeldein gelatscht, und dabei würden Kleinstlebewesen oder junge Pflanzentriebe zerdrückt. Auch Pilze, selbst kleinste Exemplare, würden teils achtlos aus der Erde gerissen. Eigentlich sei der Mensch im Wald fehl am Platz, sagt Wald. „Ich wünschte, sie würden die Pilze nur anschauen und nicht ernten“, erklärt er, weiß aber, dass das ein Wunsch bleiben wird. „Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn Pilze nicht nur als Lebensmittel, sondern als Lebewesen angesehen würden.“