Vom Gast zum Bürger
Vor 60 Jahren schlossen die Bundesrepublik und die Türkei das „Anwerbeabkommen“ab. Viele der Erwartungen waren naiv, die Gesellschaften beider Länder hat es verändert. Die Bilanz ist zwiespältig.
Am Anfang stand die Hoffnung auf einen eher technischen Interessenausgleich auf Zeit. Das im Wirtschaftswunder an chronischem Arbeitskräftemangel leidende Deutschland warb in der unter Arbeitslosigkeit ächzenden Türkei um Arbeiter. Kommen, arbeiten, gehen auf der einen Seite und hinfahren, Geld verdienen, zurückkommen auf der anderen Seite – das waren die Erwartungen. Vertiefte Kontakte und gemeinsame Perspektiven waren nicht vorgesehen. Es kam anders. 60 Jahre nach der Unterschrift unter das deutschtürkische Anwerbeabkommen hat dieses Stück Papier beide Nationen verändert.
Auf Wunsch der Wirtschaft war es schnell vorbei mit der anfangs geltenden Rotation. Die Betriebe lernten Kenntnisse und Fähigkeiten der „Gastarbeiter“schätzen und wollten sie nicht schon nach kurzer Zeit wieder ziehen lassen. Nicht wenige Türken blickten „plötzlich“auf Jahrzehnte in Deutschland zurück und meinten, sie hätten irgendwann „vergessen zurückzukehren“. So wie im Titel eines Films von Fatih Akin aus dem Jahr 2001.
So entwürdigend die ärztliche Gebissund Gesundheitsuntersuchung für die Bewerber war, so würdelos blieb der erste Umgang mit den „Gästen“. In Massenunterkünfte gebracht, von „Kollegen“diskriminiert, von großen Teilen der Gesellschaft abschätzig betrachtet, blieben die meisten in ihrer türkischen Arbeiter-Community, lernten kein Deutsch und lernten auch das Leben in Deutschland kaum kennen. Integrationsbemühungen galten als überflüssig.
1973 entschied die sozialliberale Bundesregierung das Ende des Abkommens und wies alle Behörden an, „ab sofort die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer
einzustellen“. Tatsächlich gilt für die 60 Jahre die Faustformel, dass vier Millionen Türken gekommen und zwei Millionen zurückgekehrt sind. Aber: Der Arbeitsanwerbung folgte in den 70er- und 80er-Jahren eine Phase des Familiennachzuges. Statt möglichst kärglich in Deutschland zu leben und dafür alles der Familie in die Türkei zu schicken, entschieden sich mehr und mehr Türken, als Familie „vorübergehend“in Deutschland zusammenzuleben. Die Familien wuchsen, Kinder wurden hier geboren. Und für sie gab es von Anfang an zwei Identitäten. Das Vaterland ihrer Geburt und das Mutterland ihrer Herkunft.
Sie hatten bald mit Identitätsbrüchen zu kämpfen. Wenn sie in den Ferien mit ihren Eltern in die „Heimat“zurückkehrten, fühlten sie sich dort fremd. Und was ihre Eltern und Großeltern in den türkischen Parallelgesellschaften deutscher Großstädte als Bewahrung ihrer heimatlichen Kultur pflegten, erlebten sie als weiteren Bruch: Es war oft der Entwurf einer türkischen Gesellschaft der 60erJahre, die es so in der Türkei in den 90erJahren auch nicht mehr gab.
Bald ergab sich eine generationenübergreifende Kreisbewegung: Türken der ersten und zweiten Generation kehrten zurück, wechselten wenig später aber auch wieder nach Deutschland. Das manifestiert die Veränderung, die Millionen Menschen für beide Länder bewirkten: Beide Gesellschaften wurden offener, vielfältiger. Die politischen Verengungen in der Türkei durch Militärputsch und Erdogan-Herrschaft blieben nicht ohne Einfluss. Deutschland wurde zum Rückzugsraum politisch Verfolgter und ist nun Reserveraum für eine neue Türkei nach Erdogan. Zugleich stützt eine Mehrheit der in Deutschland an den Türkei-Wahlen teilnehmenden Bürger das Regime.
Nach sechs Jahrzehnten ist der Zwischenbefund
„Ich wünsche mir, dass die Anerkennung der Lebensleistung endlich stattfindet“
Serap Güler (CDU) Tochter eines „Gastarbeiters“