Der Verfolger, der keiner sein will
Bayer Leverkusen steht nach dem 4:0 in Bielefeld punktgleich mit dem FC Bayern an der Spitze der Bundesliga. Das liegt unter anderem an einem herausragenden Offensivtrio, einer neuen Riege an Führungsspielern, einem neuen Coach und einer Prise Spielglück.
LEVERKUSEN Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich: Hat sich der Werksklub in den vergangenen Wochen und Monaten tatsächlich zu einem absoluten Top-Team der Bundesliga entwickelt? Die jüngsten Ergebnisse bekräftigen diese Annahme zumindest. Fünf Pflichtspiele in Serie hat die Mannschaft von Trainer Gerardo Seoane inzwischen gewonnen, präsentierte sich zuletzt beim 4:0 in Bielefeld im Stile einer Spitzenmannschaft. Sie ist Gruppen-Erster in der Europa League und kann mit einem Heimsieg am nächsten Bundesliga-Spieltag gegen den FC Bayern München am Rekordmeister vorbeiziehen und die Tabellenführung erobern.
Der erfolgreiche Lauf kommt nicht von ungefähr. Zunächst ist natürlich der neue Coach zu nennen. Seoane hat es trotz einer holprigen Vorbereitung geschafft, der Mannschaft im Eilverfahren einen neuen Spielstil zu implementieren und eine neue Teamhierarchie zu etablieren. Mit seiner unaufgeregten, stets sachlichen und aufs Wesentliche fokussierten Art kommt er in Bayers Führungsriege, bei den Fans und Spielern gleichermaßen gut an. Schießt die Werkself ein Tor, freut sich die gesamte Bank. Das Lieblingswort des Schweizers ist „Solidarität“– und die sieht man auch auf dem Rasen. Verliert ein Profi den Ball, sind sogleich mehrere Mitspieler zu sehen, die zur Hilfe eilen. Die Mannschaft des Schweizers spielt schnörkelloser als im Vorjahr und mit einer Verve, die ihr im vergangenen Winter irgendwo inmitten der Geisterspiel-Tristesse abhandengekommen war.
Aus einem starken Kollektiv ragt derzeit das Offensivtrio Florian Wirtz, Moussa Diaby und Patrik Schick heraus. Das spiegelt sich auch in den Bestenlisten wider. NeuNationalspieler Wirtz ist trotz seiner erst 18 Jahre schon jetzt Dreh- und Angelpunkt der Werkself. Er sortiert sich in der Liste der besten Scorer gleich hinter Dortmunds Erling Haaland ein. Schick macht den Eindruck, als sei er in seinem zweiten Jahr unter dem Bayer-Kreuz erst richtig angekommen und lässt die Entscheidung seines Ex-Klubs Leipzig,
ihn nicht fest verpflichtet zu haben, mit jedem weiteren Treffer für Leverkusen schlechter aussehen.
Wenn über Bayer gesprochen oder geschrieben wird, waren in den vergangenen Jahren häufig Führungsspieler beziehungsweise das Fehlen ebensolcher Thema. Was das betrifft, ist offenbar ein Ruck durch die Mannschaft gegangen. Rekordeinkauf Kerem Demirbay schlüpft im Mittelfeld allmählich in die Rolle, die ihm Bayer bei seinem Transfer aus Hoffenheim zugetraut hatte. Und auch Jonathan Tah schwingt sich nach Jahren der Stagnation zunehmend zum Abwehrchef auf. Zudem wirkt der formstarke Lukas Hradecky im Tor der Werkself von der Übernahme des Kapitänsamts regelrecht beflügelt und wächst Woche für Woche über sich hinaus.
Die Achse Hradecky-Tah-Demirbay sorgt für Stabilität.
Spektakuläre Partien mit Leverkusener Beteiligung gab es in den vergangenen Jahren zuhauf. Und auch in dieser Saison hat Bayer mit dem Duell gegen Dortmund (3:4) mal wieder ein Bewerbungsschreiben für das Spiel des Jahres geliefert. Neu ist hingegen, dass der Werksklub auch anders kann. Als Beleg dafür dienen die Erfolge in Stuttgart (3:1) und gegen Mainz (1:0), die beide in die Kategorie Arbeitssieg fallen. Zuletzt sind die Rheinländer drei Pflichtspiele in Serie ohne Gegentor geblieben – auch das hat es lange zuvor nicht gegeben.
Bei aller berechtigten Zufriedenheit, die derzeit unter dem BayerKreuz angesichts des gelungenen Saisonstarts herrscht, darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass freilich auch das Spielglück bislang auf Seiten der Leverkusener war. Den Erfolg schmälern soll dieser Hinweis aber keineswegs. Bayer steht zurecht dort, wo es gerade steht und darf mit einem guten Gefühl in die Länderspielpause gehen. Und wer weiß: Vielleicht ist der Werksklub schon nach dem Duell mit dem FC Bayern nicht mehr länger Verfolger, sondern Gejagter. In Leverkusen hätten sie gegen diesen Rollentausch wohl kaum Einwände.